Paris – Lille
(Seine, Oise, Canal du Nord, la Deûle; 348 km; 34 Schleusen)
Nach bald drei Wochen Paris werden wir unruhig – wir sind uns das sesshafte Leben nicht mehr gewöhnt! Charlottes Neffe Kurt und sein Curling-Kollege Armin wollen eine Woche mitfahren. Zusteigen ist hier ideal, da wir sozusagen in Rufweite der Métrostation «Bastille» liegen.
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Wir haben beim Hafenmeister die Schleuse so bestellt, dass wir zur «richtigen» Zeit auf der Seine sind. Von der Cathédrale Notre Dame seineabwärts ist nämlich mit Lichtsignal geregelter Einbahnverkehr und «grün» wird immer zwischen h+35 min und h+50 min angezeigt.
Dann geht es zügig die Seine hinunter – immer wieder ein Erlebnis!
Vor Conflans-Sainte-Honorine zeigt eine Tafel Linksverkehr an.
Christian ist richtig glücklich, denn jetzt kann er endlich sein neues Spielzeug, die «Blaue Tafel», einweihen.
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In Conflans biegen wir in die Oise ein und fahren stromaufwärts Richtung Compiègne. Dort ist die Firma Guerdin zu Hause, spezialisiert auf Schiffszubehör. Hier wollen wir auftanken sowie neue Akkus und Taue kaufen.
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Auf der Fahrt nach Compiègne übernachten wir in L’Isle Adam, wo wir einem ganz besonderen Phänomen – um nicht zu sagen Phantom – begegnen.
Ein mit Schwanz rund 80 cm langes Tier schwimmt um unser Schiff, offensichtlich auf der Suche nach Futter. Ein Fischotter? Ein Biber? Eine Bisamratte? Fischotter sehen irgendwie anders aus, Biber haben einen anderen Schwanz, Bisamratten sind nicht so gross und sehr scheu – wir sind ratlos.
Das Rätsel löst sich, als wir das rätselhafte Tier am Ufer beobachten, traulich zusammen mit Enten. Es sind Bisamratten, die hier offensichtlich gefüttert werden und deshalb so zutraulich und so riesig werden!
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In Compiègne bunkern wir Diesel und kaufen das erwähnte Zubehör ein. Hier verdient Armin, der ja in Paris zugestiegen ist, eine besondere – lobende! – Erwähnung. «Akkus ersetzen» tönt ja relativ simpel. Aber erstens sind Bleiakkus mit einer Kapazität von 180 Ah sauschwer (und sauteuer…), und zweitens sind sie in unserem Maschinenraum auf eine ziemlich komplizierte Art und Weise parallel geschaltet, damit Haushalt- und Starterakkus zwar gleichzeitig geladen, aber nicht gleichzeitig entladen werden. Armin, der sich vom gelernten Lastwagenmechaniker bis zum Mitglied der Geschäftsleitung der Mineralölfirma Osterwalder AG emporgearbeitet hat, legt tatkräftig Hand an und ist dafür besorgt, dass wir keinen Kurzschluss produzieren und ja nichts falsch anschliessen.
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Von Compiègne aus könnte man auf dem stillen und wenig befahrenen Canal de Saint-Quentin nordwärts fahren.
Die schnellste Route führt allerdings über den Canal du Nord, eine vielbefahrene Grossschifffahrtstrasse. Den St-Quentin haben wir schon einmal – lang, lang ist’s her!– befahren und der Canal du Nord hat uns schon lange gereizt. Die kleinen Kanäle haben durchaus ihren unvergleichlichen Charme. Aber abgesehen von ihrem in der Regel beklagenswerten Zustand wollen wir raschmöglichst nach Norden. Also entscheiden wir uns für den Canal du Nord.
Der Canal du Nord wurde anfangs des 20. Jahrhunderts als schnelle neue Verbindung von der Seine nach Norden in Angriff genommen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war er erst zu zwei Dritteln vollendet. Im Krieg wurde er vollständig zerstört und erst nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Mittel vorhanden, ihn wieder aufzubauen. 1965 wurde er eröffnet, war aber für die wirklich grossen Frachtschiffe bereits wieder zu klein.
Zudem hält sich der Verkehr, Krise sei Dank, in überschaubaren Grenzen, und zu unserer Überraschung erweist sich der Canal du Nord als landschaftlich durchaus reizvoll.
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In Noyon verlassen uns Kurt und Armin, wir bleiben hier einige Tage liegen und warten auf Peter, unseren nächsten Gast.
Zusammen mit seiner Frau Ruth war er schon mehrmals bei uns an Bord, aber diesmal hat nur er Ferien.
Die sicherlich schönste Teilstrecke des Canal du Nord führt zwischen Voyennes und Péronne über rund 20 Kilometer der Somme entlang.
Grossschifffahrtstrassen sind nicht für die Freizeitschifffahrt eingerichtet. Aber in Péronne, so hat man uns versichert, gebe es einen guten Hafen. Zur Sicherheit rufen wir von unterwegs die Hafenmeisterin an. «23 Meter lang? Kein Problem! Im Hafen wenden? Kein Problem!» versichert sie uns fröhlich. Aber man soll sich nie auf derartige Auskünfte verlassen!
Die Einfahrt in den Hafen ist eng und der (einzige) freie Platz am etwas zerbrechlich wirkenden Ponton ist, grosszügig bemessen, etwa 12 Meter lang. Ganz hinten im Hafen, im untiefen Bereich, liegt allerdings eine unbewohnte 38 Meter-Péniche. Wir gelangen in Schleichfahrt dorthin, legen längsseits an und Charlotte fragt: «Wie kommen wir hier jemals wieder raus?» Die Antwort von Christian tönt beruhigender, als ihm selbst zumute ist: «So, wie wir hinein gekommen sind!»
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Die Rückwärtsfahrt am nächsten Morgen gelingt dann aber perfekt und es erwartet uns bereits das nächste Highlight, der 4,3 Kilometer lange Ruyaulcourt-Tunnel. Die Einfahrt ist mit Lichtern geregelt, in der Mitte des Tunnels hat es eine «gare centrale de croisement», einen Kreuzungsbahnhof also. Sehr imposant, das Ganze.
Die Lichter im Tunnel und vor allem die dadurch hervorgerufenen Spiegelungen sind allerdings sehr verwirrlich. Man glaubt, auf einen Verkehrsteiler zuzufahren, aber es ist nur ein dunkler Reflex.
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Einige Schleusen passieren wir zusammen mit dem beladenen Frachtschiff «Tabarly» aus Dünkirchen.
Bei einer der Schleusen ergibt sich die Gelegenheit zu einem kleinen Schwatz mit ihrem Kapitän und Eigentümer, Monsieur Blavoet, aus einem kleinen Dorf bei Dünkirchen. Er gibt uns seine Visitenkarte und lädt uns ein, vor seinem Haus anzulegen, wenn wir dort vorbeikommen. Es liege am stillgelegten «Canal de la moyenne Colme». Wir werden dieser Einladung sicher folgen, denn so etwas erlebt man nicht alle Tage!
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In Arleux endet der Canal du Nord und wir gelangen auf die «liaison au grand gabarit Dunkerque-Escaut», die grosse Verbindung also zwischen Dünkirchen und der Schelde.
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Bei Bauvin verlassen wir die liaison au grand gabarit und fahren auf der Deûle nach Lille. Auch die Schleusen der Deûle sind mit einer Länge von 144.60 m und einer Breite von 12 m für gröbere Brocken dimensioniert. Was Liegeplätze betrifft, können wir allerdings weder aus unseren Karten noch aus unseren DBA-Unterlagen viel Zuversicht schöpfen.
Auf der Karte finden wir den wenig einladenden Hinweis auf einen «garage à bateaux». Wie sich herausstellt, ist dies eine Art Seitenarm der Deûle mit einem etwa 700 m langen Bassin, völlig im Grünen.
Dieses «völlig im Grünen» erhält während der Nacht eine völlig neue Bedeutung: Der kräftige Wind drückt einen ganzen Algenteppich die Deûle hinunter und auch in «unser» Bassin hinein.
In der Schleuse, die wir am nächsten Morgen passieren, ist der Algenteppich so dick, dass man darauf gehen könnte.
Der Kühlwasserfilter füllt sich rapide mit Algen und bei der Ausfahrt aus der Schleuse ist die Schiffsschraube unklar. Wie sich herausstellen wird – Christian wird wieder einmal tauchen – hat sich eine Damenhandtasche darum gewickelt. Jede halbe Stunde müssen wir den Kühlwasserfilter reinigen. Wir haben mit anderen Worten viel Spass und Unterhaltung, bis wir – endlich! – in Lille ankommen.
Das haben wir uns mit dem Anblick einiger ziemlich unromantischer Verladeanlagen verdienen müssen. Aber wir sind pragmatisch: Solange es funktionierende Verladeanlagen gibt, werden Frachtschiffe beladen, solange Frachtschiffe beladen werden, wird Fracht auf dem Wasserweg transportiert und solange Fracht auf dem Wasserweg transportiert wird, werden die Wasserwege auch für uns instand gehalten.
Und was auch noch gesagt sein muss: Diese Wasserwege mit ihren grossen Schleusen und Tunnels haben wir dank der tatkräftigen Hilfe unserer Gäste Kurt, Armin und Peter problemlos und völlig stressfrei befahren!
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Frits und Nel van Geijtenbeek haben uns in Paris auf unserer Karte eingezeichnet, wo man in Lille liegen kann, nämlich im Bras de la Citadelle. Wir biegen also frohgemut in das ein, was wir für den Bras de la Citadelle halten. Es wird schmal und schmaler, links ist ein Park mit Joggern und alten Damen, die ihre Hündchen Gassi führen, rechts ein Fussweg. Uns wird immer mulmiger. Sind wir hier richtig? Es öffnet sich ein kleines Becken und Christian benützt die Gelegenheit für eine Wende an Ort, um unsere Erkundungsfahrt durch den Stadtpark von Lille in Rückwärtsfahrt fortzusetzen. Dann ist vor einer stillgelegten Schleuse Ende der Fahnenstange. Ein paar einsame Poller, kein Strom, kein Elektrisch und weit und breit kein Schiff.
Immerhin ist Lille die grösste Stadt Nordfrankreichs! Mittlerweile sind wir allerdings mit der französischen Mentalität so weit vertraut, dass wir keinen Moment zögern, hier fest zu machen. Schliesslich hat es kein Verbotsschild, weder für das Befahren noch für das Anlegen, und selbst wenn etwas in Frankreich «strictement inderdit» ist, so ist es doch in der Regel «toléré». Aber, wie sich herausstellt, sind wir hier am richtigen Ort.
Wir liegen hier nicht nur nautisch, sondern auch gastronomisch gut, nämlich direkt vor dem Restaurant «Le Corfou», wo der Koch Christos und sein Chef Nikos nicht nur griechische Gastfreundschaft zelebrieren, sondern auch ein absolut himmlisches Moussaka, ein deliziöses Poulet Corfou und butterzarte Calamares auf den Tisch zaubern. Hier ist gut sein und deshalb verschieben wir den Bericht über Lille selber auf das nächste Mal. À bientôt!
Aus dem Logbuch
- Rueil-Malmaison. Quai am linken Ufer der Seine. Gratis. Keine Einrichtungen. Sehr gepflegter Vorort von Paris. Alle Einkaufsmöglichkeiten. Markt am Freitagmorgen
- L’Isle Adam. Ponton mit Strom und Wasser. Kostenpflichtig (Kreditkartenautomat). Alle Einkaufsmöglichkeiten.
- Oberwasser Schleuse Verberie 2 (Oise PK 82). Langer Quai mit Pollern. Ruhiger Liegeplatz, Schleusenwärter auf VHF 22 um Erlaubnis fragen. Keine Einrichtungen, gratis. Sehr ruhig.
- Oberwasser Schleuse Bellerive (Canal de la Sambre à l’Oise PK 28). Langer Quai mit Pollern. Ruhiger Liegeplatz, Schleusenwärter auf VHF 18 um Erlaubnis fragen. Keine Einrichtungen, gratis. Sehr ruhig.
- Port Public de Noyon. Nähe Getreidesilo, wo gelegentlich Korn verladen wird. Langer Quai mit Pollern. Keine Einrichtungen, gratis. Nachts sehr ruhig. Alle Einkaufsmöglichkeiten in Noyon. Mit SNCF ca. 1 h nach Paris. Wahrscheinlich ist es politisch nicht korrekt, wenn wir vermerken, dass wir in Noyon die meisten Leute als sehr dick oder sehr hässlich oder als psychisch sehr grenzwertig oder als eine beliebige Kombination der drei Eigenschaften empfanden.
- Péronne. Sportboothafen. Geeignet für Boote bis 12 Meter. Schwimmstege mit Strom und Wasser. Kostenpflichtig. Alle Einkaufsmöglichkeiten. Sehr sehenswertes Museum zum Ersten Weltkrieg (Somme-Schlacht).
- Sains-lès-Marquion. Quai linkes Ufer oberhalb Schleuse Marquion. Nicht erwähnens- und auch nicht empfehlenswert.
- Arleux. Quais am linken und rechten Ufer. Viele Berufsschiffe. Keine Einrichtungen. Wasserzapfstelle direkt nach der Brücke am linken Quai. Gratis. Relativ bescheidene Einkaufsmöglichkeiten, aber Metzger und Bäcker sind erstklassig.
- Bauvin. Garage à bateaux.
- Lille. Bras de la Citadelle bei aufgehobener Schleuse «de la Barre». Quai mit einigen Pollern. Keine Einrichtungen. Gratis. Direkt vor dem Restaurant «Le Corfou». Gute griechische Küche und viel, viel Gastfreundschaft.