Pont-à-Bar (Ardennes) bis Epernay (Champagne)
Etwa 2 Stunden vor Pont-à-Bar fanden wir Mitte Juli einen idealen Anlegeplatz, einen ca. 100 m langen Ponton mit Wasseranschluss, ruhig gelegen und im Schatten von Pappeln. Dort verliessen uns unsere Feriengäste Markus, Irina und Kasimir, und wir mussten uns zuerst wieder an die Ruhe auf dem Schiff gewöhnen. Als wir nach zwei Ruhetagen (genau gesagt: Putz- und Maltagen) losfahren wollten, erreichte uns ein Telefon von Nell und Frits, unseren Freunden von der „Shell V“. Sie waren von Namur aus auf der Sambre Richtung Compiègne gefahren und dann auf der Aisne und dem Canal des Ardennes östlich Richtung Canal de l’Est. Es stellte sich heraus, dass sie nur etwa zwei Stunden von uns entfernt waren. Wir beschlossen, noch einen Tag liegen zu bleiben und Wiedersehen zu feiern, was wir im Rahmen eines überaus eindrücklichen Gewitters bei Spaghetti und einer Flasche Rotwein denn auch taten. Ihre Schilderungen vom Canal des Ardennes waren so enthusiastisch, dass wir am nächsten Tag fast nicht mehr anders konnten, als bei Pont-à-Bar den Canal de l’Est zu verlassen und nach Westen in den Ardennenkanal einzubiegen.
Die erste Schleuse in den Canal des Ardennes erwies sich als sehr gepflegt, und der Schleusenwärter (einer der wenigen, die der Automatisierung noch nicht zum Opfer gefallen sind), liess uns bereitwillig solange in der Schleuse, bis unsere Wassertanks gefüllt waren.
Auch auf einem schmalen und wenig befahrenen Kanal wie dem Canal des Ardennes kann einem ein Lastschiff entgegen kommen. Mit einem kleinen Schubverband hatten wir allerdings nicht gerechnet – und dies erst noch in einer unübersichtlichen Biegung. Das Kreuzen geschah im Schritttempo und bedeutete für beide Schiffsführer Zentimeterarbeit. Das Problem dabei ist nicht die Breite der beiden Schiffe, sondern die Tatsache, dass beide soviel Wasser verdrängen, dass man plötzlich den Grund berührt und die Schraube oder das Ruder beschädigt. Für Berufsschiffer ist das Alltag, aber für uns waren es spannende Momente.
Mittlerweile haben wir uns angewöhnt, auch auf einsamen Kanälen den Schiffsfunk immer eingeschaltet zu lassen. Auf einem der beiden Funkgeräte sind wir immer auf Kanal 10, welcher dem Funkverkehr Schiff-Schiff vorbehalten ist. Vor der Einfahrt in enge oder unübersichtliche Teilstücke melden wir routinemässig unsere Schiffsart, Position und Fahrtrichtung, d.h. Bergfahrt oder Talfahrt. Ist ein Schiff in der Nähe, hört es unsere Meldung. Das hat uns mehr als einmal vor heiklen Situationen bewahrt.
Hinzu kommt, dass beladene Péniches (Bild oben) wegen des grossen Tiefgangs nur ungern ausweichen, während unbeladene Péniches (Bild unten) einen enorm grossen toten Winkel haben. Als Freizeitkapitäne müssen wir übrigens der Berufsschifffahrt dankbar sein, dass sie auch kleine Kanäle befährt. Diese Kanäle werden von der zuständigen Gesellschaft, den Voies Navigables de France (VNF), ganz anders unterhalten als jene Teilstrecken, welche nur noch von den «Plaisanciers», den Freizeitschiffern also, befahren werden.
So befindet sich beispielsweise die absolut spektakuläre Schleusentreppe, welche mit 27 Schleusen auf nur 8 Kilometern vom Scheitel des Canal des Ardennes in das Tal der Aisne herabführt, in einem erbärmlichen Zustand. Wir haben uns mehrfach gewundert, dass diese Technik überhaupt noch funktioniert!
Dabei ist das Befahren dieser Schleusentreppe ein unvergessliches Erlebnis. Wir benötigten für die 27 Schleusen rund 7 Stunden, weil Ein- und Ausfahren mit einem Schiff von der Grösse des unseren jedes Mal volle Konzentration verlangt. Wenn man mit einem 50-Tonnen-Schiff in einer Schleuse anknallt, sind entweder die Schleuse oder das Schiff beschädigt. Beides ist unangenehm. Weil diese Schleusentreppe voll automatisiert ist und, mit einer Ausnahme, unterwegs keine Anlegemöglichkeiten vorhanden sind, muss man sie in einem Zug befahren. Man wird quasi von Fotozelle zu Fotozelle weitergereicht. Dass moderne Elektronik und alte, still vor sich hinrostende Technik überhaupt zusammen funktionieren, grenzt an ein Wunder!
Das Schleusenmass in dieser Gegend ist einheitlich 38.5m x 5.05m, nach einem französischen Ingenieur Freycinet-Mass genannt. Die hier verkehrenden Berufsschiffe haben denn auch genau diese Abmessungen. Namentlich in dieser Gegend, wo hauptsächlich Getreide und Zuckerrüben angebaut werden, sind Frachtschiffe das ökonomischste und erstaunlicherweise auch das schnellste Transportmittel. Tragischerweise wurden seit den siebziger Jahren zahlreiche Frachtschiffe dieser Grösse im Zuge der allgemeinen Lastwagen-Euphorie entweder verschrottet oder zu stationären Wohnschiffen umgebaut. Auf dem Wasser zählten nur noch grosse und grösste Frachtschiffe, welche aber, wegen der Schleusenmasse, nur die grossen Wasserstrassen befahren können. Heute scheint man sich, angesichts verstopfter Strassen und streikender Chauffeure, wieder auf den Frachttransport zu Wasser zurück zu besinnen. Das macht schon deshalb Sinn, weil die grossen Getreidesilos und Zuckerfabriken zumeist an Kanälen liegen und über die entsprechenden Anlege- und Lademöglichkeiten verfügen. Nur fehlen heute die Schiffe der entsprechenden Grösse, so dass man erstaunlich oft belgischen und sogar niederländischen Frachtschiffen begegnet.
Die französischen Ardennen, die wir auf unserer Reise von Norden nach Süden durchquert haben, haben uns durch ihre grosszügige Weite und ihre beinahe unendlichen, bis zum Horizont reichenden Kornfelder beeindruckt. Nicht minder beeindruckend sind auch die riesigen Ardennenwälder, ideales Revier des Wildschweins.
Diese grosszügige Weite, verbunden mit der strategischen Bedeutung der Flussübergänge, hat immer wieder fremde Armeen zum Ein- und Durchmarsch veranlasst. Eine Tafel an der Brücke über die Aisne in Rethel legt davon beredtes Zeugnis ab. Für eine weitere Jahreszahl hat man Platz gelassen…
Von Rethel aus unternahmen wir einen rund anderthalbstündigen Veloausflug nach Nouvion-Porcien, wo sich das in jeder Hinsicht besuchenswerte «Musée Guerre et Paix en Ardennes» befindet. Äusserlich ist es in seiner Architektur einer Befestigungsanlage nachempfunden.
Das Museum selbst thematisiert die Kriege 1870/71, 1914–1918 und 1939–1945 in didaktisch hervorragender Weise, mit zahlreichen Videos und Audiogeräten. Wie sehr dieses Gebiet zwischen 1870 und 1945 unter Kriegen gelitten hat, realisiert man auch bei Kirchenbesuchen. Kaum eine Kirche, die nicht mindestens dreimal zerstört und wiederaufgebaut wurde. In jedem Dorf findet man auch ein Denkmal «Pour nos morts». Auffallend, aber nicht verwunderlich ist, dass der Erste Weltkrieg viel mehr Opfer forderte als der Zweite Weltkrieg. Wer jemals die Schlachtfelder von Verdun besucht hat, weiss warum.
Es würde wohl eine grosse Melancholie über dieser Gegend schweben, wäre da nicht ein anderer Aspekt dieser Gegend, denn nicht umsonst heisst das Département Champagne-Ardenne.
Nautisch gesehen verliessen wir in Vieux-lès-Asfeld den Canal des Ardennes und fuhren ein kurzes Stück auf dem Canal latéral à l’Aisne. Wir hätten auf ihm weiter westlich fahren oder dann bei Berry-au-Bac in den südlich führenden Canal de l’Aisne à la Marne einbiegen können. Wir entschieden uns für die zweite Variante, weil sie uns für die weitere Routenplanung wesentlich mehr Varianten offenliess.
Auf dem Canal de l’Aisne à la Marne gelangten wir in zwei Tagen nach Reims, eine mit jahrtausende langer Geschichte förmlich getränkte Stadt. In der mächtigen Kathedrale wurden nicht weniger als 24 französische Könige gekrönt. Nach dem Verständnis von Kirche und Königshaus war der Erzbischof von Reims der Stellvertreter Gottes in Frankreich. Die weltliche Macht kam dem König zu, der sie durch den Akt der Krönung aus der Hand des Erzbischofs empfing.
In der Kathedrale von Reims erlebten wir an einem Sonntagmorgen eine in ihrer Schlichtheit auch uns kirchenskeptische Menschen ergreifende Messe. Der Erzbischof predigte ohne Manuskript und zog alle Anwesenden in seinen Bann. Dazu trug auch bei, dass die Besucher des Gottesdienstes in dessen Gestaltung miteinbezogen wurden.
Als Zürcher fielen uns natürlich sofort die von Marc Chagall geschaffenen Kirchenfenster auf. Sie kommen in der mächtigen Kathedrale ebenso gut zur Geltung wie im heimatlichen Fraumünster.
In Reims hatten wir ausgiebig Gelegenheit, das aufgelaufene kulturelle Defizit zu beheben. Im Rahmen von musikalischen Sommerfestwochen, den «Flâneries Musicales d’Eté de Reims» wird eine einzigartige Konzertreihe mit weltberühmten Interpreten veranstaltet. Dank grosszügiger Sponsoren wie den grossen Champagnerhäusern und internationalen Konzernen wird für die meisten Veranstaltungen kein Eintritt erhoben. Davon die Zürcher Junifestwochen nur träumen. Jedenfalls gelangten wir in den Genuss eines Konzertabends mit dem Pianisten Cyprien Katsaris, der sich in einen derartigen Spielrausch hineinsteigerte, dass aus einer Konzertstunde deren zwei wurden.
Einen weiteren musikalischen Höhepunkt erlebten wir mit dem Violinisten Pinchas Zukerman und seinen Chamber Players. Obwohl im Grand Théâtre weder Klimaanlage noch Lüftung funktionierten und den Musikern der Schweiss nur so herunterlief, liessen sie sich nichts anmerken und spielten grossartig.
Wir lagen in Reims mit unserem Schiff im Port Colbert, keine zehn Gehminuten von der Kathedrale entfernt. Dafür nahmen wir gerne in Kauf, dass unser Liegeplatz wegen seiner Nähe zur Autobahn und Ausfallstrassen sehr lärmig war. Dafür ist die Innenstadt von Reims sehr ruhig und sehr fussgängerfreundlich, weil der Autoverkehr ausserhalb der Stadt durchgeführt wird.
Einmal mehr erlebten wir wieder, wie klein die Welt ist. Als wir im Sommer 2003 mit einer gemieteten Yacht den Rhein-Rhone-Kanal befuhren, lagen wir einmal im Hafen neben einem unter englischer Flagge fahrenden Schiff, das uns sehr gefiel, weshalb wir es ausgiebig fotografierten. An unserem zweiten Tag in Reims legte genau dieses Schiff neben uns an und wir lernten das Eignerpaar der «Sable» kennen, einen pensionierten PanAm-Piloten und seine Frau.
Nach drei Tagen Reims lockte uns die Champagne und wir fuhren weiter westlich nach Sillery. Hier erstrecken sich in einer grossartigen, sanfthügligen Landschaft Weinberge, die kein Ende zu nehmen scheinen.
Auf einer Fahrradtour durch die Weinberge begegneten wir den grossen Namen, die wir bisher nur von Flaschenetiketten kannten.
Unser Ziel war das Weinbaumuseum in Verzenay. Anfangs des letzten Jahrhunderts hatte der Inhaber eines Champagnerhauses als Markenzeichen einen Leuchtturm auf einem Hügel in den Weinbergen errichten lassen. Im Laufe der Zeit zerfiel dieser Leuchtturm. In den neunziger Jahren wurde dieser Leuchtturm neu gebaut als Wahrzeichen des Weinbaumuseums «Le phare».
Wir wissen jetzt, dass der Champagner seinen Charakter dem einzigartigen Boden (Kreide, Mergel und Ton) und dem ebenso einzigartigen Klima (atlantisch und kontinental) verdankt. Es versteht sich von selbst, dass wir diesen Ausflug mit einem Glas Champagner abschlossen. Angebaut und gekeltert hat diesen Champagner übrigens ein Produzent, dessen Kellereien nur ein paar hundert Meter von unserem Liegeplatz in Sillery entfernt waren. Monsieur Collin-Guillaume liess es sich nicht nehmen, uns seinen Champagner höchstpersönlich direkt ans Schiff zu liefern.
Auf der Fahrt auf dem Kanal von Reims nach Sillery retteten wir einem Hund das Leben. Dieser Kanal ist an beiden Ufern mit eisernen Spundwänden eingefasst, die etwa einen halben Meter über den Wasserspiegel reichen. Plötzlich sahen wir einen Hund, der offensichtlich ins Wasser gefallen war und verzweifelt, aber vergeblich versuchte, wieder ans Ufer zu gelangen. Weit und breit war niemand zu sehen, dem dieser Hund gehört hätte. Vielleicht war er unbemerkt von einem Schiff aus ins Wasser gefallen oder sein joggendes Herrchen (oder Frauchen) hatte das Verschwinden des Hundes noch gar nicht bemerkt. Wegen der Höhe hatten wir von unserem Schiff aus keine Chance, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Glücklicherweise kam ein Biker vorbei und Charlotte machte ihn laut rufend auf den ertrinkenden Hund aufmerksam. Es gelang dem Mann, den Hund aus dem Wasser zu ziehen. Es war ein wunderschöner Lakeland-Terrier. Er schüttelte sich, hob das Bein und versuchte dann, eine Spur aufzunehmen. Weil wir weiterfahren mussten, wissen wir nicht, was mit ihm geschah. Im Nachhinein haben wir es beinahe ein bisschen bedauert, dass wir den Findelhund nicht aufgenommen haben.
In Sillery fuhren wir sehr früh am Morgen weg, weil wir das 2.3 km lange Tunnel von Mont-de-Billy passieren mussten. Das Tunnel ist nur im Einbahnverkehr befahrbar und Wartezeiten bis zu einer Stunde sind möglich. Dank unseres frühen Aufbruchs konnten wir ohne jegliche Wartezeit direkt einfahren. Derartige Tunneldurchfahrten erfordern zwar volle Konzentration, sind aber immer sehr eindrücklich. Anschliessend an dieses Tunnel folgt eine Schleusentreppe, mit welcher wir in Tunnel Mont-de-Billy das Tal der Marne abstiegen.
In Condé-sur-Marne bogen wir Richtung Paris ab, weil wir uns für einen Abstecher in die Gegend von Epernay entschieden hatten. Unsere amerikanischen Freunde Bill und Nancy von der «Eclaircie» hatten uns angerufen, sie hätten in einem hübschen, von Weinbergen umgebenen Dorf, einen idyllischen Anlegeplatz gefunden, an welchem wir auch noch Platz hätten. Auf gings! Zuerst aber hatten wir noch die Schleuse von Cumières zu passieren, dann befanden uns auf der Marne. Nach über hundert Kilometern auf Kanälen endlich wieder einmal auf einem Fluss! Wäre es gegenwärtig für diese Jahreszeit nicht deutlich zu kühl, könnten wir sogar schwimmen. Wasserqualität ist hier im Gegensatz zu den meisten Kanälen sehr gut.
Der Liegeplatz und die Umgebung gefielen uns auf Anhieb so gut, dass wir beschlossen, hier mindestens eine Woche zu bleiben. Wir räumen ein, dass das entzückende kleine Restaurant in der Nähe und das warmherzige Wirteehepaar nicht unwesentlich zu unserem Entschluss beigetragen haben. Madame Danielle eroberte unsere Herzen mit ihren Moules et Frites im Sturm. Eine Speisekarte gibt es nicht, gekocht wird, was Markt und Garten liefern. Dafür nehmen wir sogar in Kauf, dass es hier mehrere Dutzend Champagnerkellereien gibt. Aus nahe liegenden Gründen, wenn auch schweren Herzens, werden wir darauf verzichten müssen, jedes einzelne Gewächs zu degustieren, auch wenn wir nach der Degustation nicht mehr Auto fahren müssen – unser «Zuhause» ist am Ufer vertäut.
Das ist das Faszinierende an unserer Art, zu leben: Wo in Europa wir auch sind, wir sind in unseren eigenen vier Wänden, brauchen nicht zu packen, wenn wir weiterfahren und schlafen immer in unseren eigenen Betten, ob in Holland, Belgien oder in Frankreich.
Was wir auch noch erfahren haben: Es gibt eine Art schwimmende Community auf dem Wasser. Wir bewegen uns in einer internationalen Gemeinschaft von Eignern grosser Schiffe, die per Mail und Natel ständig untereinander in Kontakt sind. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft ist praktisch unbeschränkt, weil jeder genau weiss, dass er morgen selbst auf Hilfe angewiesen sein könnte. Ist man einmal in dieses Leben eingetaucht, so ist man, so befürchten wir, nicht nur weit weg vom bisherigen Alltag, sondern für das Landleben so ziemlich verloren.