Gorinchem – Biesbosch – Oosterschelde – Antwerpen
Während wir im Lingehafen von Gorinchem lagen, hatten wir, wie im letzten Bericht erwähnt, ausgedehnte Velotouren gemacht. Dass die Welt klein ist, sagt man so leichthin. Aber wie klein sie wirklich ist, erlebten wir auf einer Velotour entlang dem Lingeflüsschen. Wir staunten nämlich nicht schlecht, als plötzlich hinter einer Biegung die «M.S. Reserve V» auftauchte. Ihre Eigner, Thijs de Jong und Edith Brinkman, hatten wir im letzten Oktober kennen gelernt, als wir neben ihnen im Hafen von Meerkerk lagen.
Wir riefen und winkten, Thijs griff zum Feldstecher und erkannte uns. Via Natel verabredeten wir ein Treffen in Gorinchem. Und so kam es, dass wir am nächsten Abend Wiedersehen feierten.
Wir erzählten ihnen von unseren Plänen, möglichst nicht auf dem gleichen Weg wie letztes Jahr nach Belgien zu fahren. Sie schlugen uns die Route durch Zeeland vor. Dieser Nordseearm ist bereits Salzwasser und gilt wegen seiner Grösse und den Auswirkungen von Ebbe und Flut als anspruchsvollstes Fahrwasser der Niederlande. Erforderlich ist denn auch ein erweiterter Fahrausweis (Vaarbewijs II), den wir (noch) nicht erworben haben.
Aber der Zufall wollte es, dass Edith und Thijs ohnehin mit ihrem Schiff durch das Scheldegebiet fahren wollten, weil Edith, eine in Holland bekannte Künstlerin, auf der Insel Schwouwen-Duiveland an einer Kunstausstellung teilnahm. Thijs anerbot sich, als Lotse mit uns mitzufahren. Die Woche bis zu ihrer Abfahrt verbrachten wir im Brabantschen Biesbosch.
Der Biesbosch ist ein grosses, labyrinthartiges, zum Nationalpark erklärtes Naturschutzgebiet mit viel Wasser, Schilf, Inselchen und lauschigen Anlegeplätzen. Am besten stellt man sich ein paar Dutzend Lützel-, Egel-, Türler- und Pfäffikerseen vor, die untereinander verbunden sind. Ausser Vogelgezwitscher hört man gar nichts. Beim Fahren muss man höllisch aufpassen, weil es manchmal ziemlich untief ist und man sich zudem völlig verfahren kann.
Dank einer sehr genauen digitalisierten Wasserkarte auf dem Notebook, das wir mit unserem GPS koppelten, konnten wir diese einmalige Landschaft unbeschwert geniessen.
Natürlich darf man im Naturschutzgebiet nicht einfach nach Belieben anlegen oder ankern. Dafür gibt es genügend einfache Liegeplätze. Kein Strom- oder Wasseranschluss, dafür Ruhe und Natur pur.
Wir lagen drei Tage im Biesbosch, liessen manchmal den (geräuschgedämpften und wassergekühlten) Generator laufen, um die Akkus aufzuladen und testeten ganz allgemein unsere Schiffsautonomie. Zu unserer Befriedigung bestand das Schiff den Test.
Natürlich sassen wir nicht drei Tage an Deck und riefen «Aahh» und «Oohh» bei jedem Vogel, den wir nicht kannten, sondern wir erkundeten das Naturschutzgebiet auch zu Fuss.
Dabei entdeckten wir, dass die grosse Fläche, die, eine halbe Fussstunde von unserem Liegeplatz entfernt, auf unserer Karte als «Pietersplaat» bezeichnet war, ein riesiges, künstliches Trinkwasserreservoir war.
Der Biesbosch ist ein Tidengewässer. Das heisst, dass bei Flut der Wasserstand steigt und bei Ebbe sinkt. Stellen, die bei hohem Wasserstand ohne weiteres passierbar sind, sind es bei Niedrigwasser möglicherweise nicht. Der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser, der sogenannte Tidenhub, beträgt im Biesbosch zwischen 35 und 70 cm. Wir mussten deshalb bei der Routenplanung die Gezeitentabellen konsultieren.
Am 9. Juni fuhren wir in südlicher Richtung weiter. Wir trafen Edith und Thijs vereinbarungsgemäss im Hollands Diep, dem riesigen Zusammenfluss von Maas und Rhein, die hier allerdings Amer und Merwede heissen.
Durch die riesigen Volkerakschleusen gelangten wir auf das Haringvliet zu den Krammerschleusen. In den Kammern dieser mächtigen Schleusen findet während jedem Schleusenvorgang ein kompletter Wasseraustausch statt. Damit wird verhindert, dass Salzwasser aus der Oosterschelde in den Volkerak bezw. Süsswasser aus dem Volkerak in die Oosterschelde gelangt.
Es war ein denkwürdiger Moment, als wir am 11. Juni bei strahlendem Sommerwetter aus der Krammerschleuse fuhren: Zum erstem Mal pflügte Kinette durch Salzwasser.
Auf dem Weg zur Insel Schouwen-Duiveland fuhren wir unter der Zeelandbrücke durch. Diese Brücke ist so riesig, dass wir uns darunter richtiggehend verloren vorkamen.
Wir fuhren mit der Strömung und kamen deshalb so gut voran, dass wir vor dem Einlaufen in den Hafen von Burghsluis kurzerhand im offenen Wasser vor Anker gingen und einen Badehalt einschalteten. Wegen der starken Strömung blieben wir allerdings dicht bei unseren Schiffen. Überdies hatte das Wasser nicht die die für uns übliche Badetemperatur. Die Nordsee machte ihrem Namen alle Ehre.
Ooster- und Westerschelde sind eigentlich Arme der Nordsee. Das erfuhren die Niederlande ganz dramatisch in der Flutkatastrophe von 1953. Damals riss eine Sturmflut riesige Löcher in die Deiche und für mehr als eine der Zeeland-Inseln hiess es «Land unter». Diese Löcher wurden mit riesigen, schwimmenden Betonklötzen, sog. Caissons, geschlossen. Sie sind zum Teil noch heute sichtbar.
Als Reaktion darauf beschlossen die Niederlande den Delta-Plan. Dieser umfasste u.a. den Bau von riesigen, hydraulischen Flutwehren. Diese sind im Normalfall offen, das heisst, dass Ebbe und Flut – für die Tierwelt wichtig! – strömen können. Damit wurde eine einzigartige Fauna erhalten. Sogar Seehunde und eine Delphinart kann man mit einigem Glück vom Schiff aus auf den Sandinseln beobachten.
Das sommerliche Wetter zwang uns richtiggehend auf die Velos und wir bereuten unsere stundenlangen Velotouren keinen Moment. Nicht nur erlebten wir eine holländische Steigungs-Exklusivität,
sondern auch einen geradezu schweizerischen Mischwald.
Hinter der nächsten Wegbiegung wartete allerdings bereits wieder die Dünenlandschaft, mit (in der Vorsaison) menschenleeren Stränden.
Eine Herde von rund hundert wilden Ponys sorgt dafür, dass sich die Vegetation dieser Dünenlandschaft nicht verändert.
Die Oosterschelde ist als Nordseearm ebenfalls ein Tidengewässer – was das ist, wissen Sie ja mittlerweile – und zwar mit einem Tidenhub von bis zu zwei Metern. Da wir von der Insel Schouwen-Duiveland landeinwärts zu fahren gedachten, wollten wir mit einlaufender Flut und damit mit der Strömung fahren. Wir konsultierten die Gezeitentabelle und beschlossen, am 15. Juni gegen 15 Uhr aus dem Hafen von Burghsluis auszulaufen.
Weil Thijs und Edith in Burghsluis blieben, wir aber jemanden mit dem erweiterten Fahrausweis an Bord brauchten, heuerten wir den einheimischen Fischer Jaap Tuinkabouter an.
Wir trauten allerdings diesem Insulaner namens Tuinkabouter nicht wirklich und so war es uns gerade recht, dass noch Arend Lind mit uns fuhr, ebenfalls Inhaber der nötigen Ausweise.
Immerhin hatte Jaap Tuinkabouter die Strömung und den Kurs richtig berechnet, sodass Arend gar nicht mehr viel zu tun hatte. Bereits nach drei Stunden konnten wir in die Krammerschleusen einfahren. Darnach befanden wir uns wieder im Süsswasser. Hier verliessen uns Jaap und Arend. Die Nacht verbrachten wir am langen Aussenponton der Krammerschleuse.
***
Am nächsten Morgen machen wir zuerst unser Schiff klar für Belgien. Anstatt der niederländischen Gastflagge hissen wir die belgische an der Steuerbordsaling. Am Bug bringen wir die Schlepp-Signalflagge an (weisses Rechteck auf rotem Grund). Wozu diese Vorschrift in Belgien besteht, weiss niemand und diese Flagge ist auch völlig sinnlos. Das macht wahrscheinlich gerade die Schönheit dieser Vorschrift aus.
Schliesslich ersetzen wir die holländische SIM-Card in unserem Natel durch eine belgische. «Roaming» ermöglicht nämlich Orange & Co. eine Art modernes Raubrittertum. Warum in der EU alle Grenzen längst aufgehoben und die Zollschranken gefallen sind, ausser für die Telefongesellschaften, weiss nämlich auch niemand. Gottseidank hat irgendein EU-Beamter nach seinen letzten Ferien eine gesalzene Natelrechnung erhalten, sodass sich die EU jetzt dieser schamlosen Abzockerei annimmt. Die Telefongesellschaften haben sich auch eilfertig bereit erklärt, die Roaming-Gebühren zu senken – nach der Feriensaison…
Dann fahren wir noch ein kurzes Stück auf dem Volkerak, bis wir hart über steuerbord in den Schelde-Rijn-Kanal einfahren. Hier herrscht starker Schiffsverkehr von und nach Antwerpen, weshalb wir brav steuerbord fahren. Obwohl wir in einem Kanal fahren und trotz der vielen Berufsschiffe ist die Landschaft wunderschön und wir geniessen die letzten Kilometer auf holländischem Wasser.
Dann sehen wir bereits von weitem die riesigen Kreekrak-Schleusen mit ihren eindrücklichen Hebetoren.
Wir melden uns beim Schleusenwärter auf Kanal 20. Die Antwort erfolgt prompt: «Kinette, nehmen Sie Kurs auf die Steuerbordschleuse und bleiben Sie auf diesem Kanal auf Empfang.» Tatsächlich werden wir wenige Minuten später wieder aufgerufen: «Kinette, fahren Sie hinter dem Schubverband ein und belegen Sie am Steuerbordwall.» In respektvollem Abstand fahren wir hinter dem Schubverband in die Schleuse ein, in der wir uns ganz verloren vorkommen.
Obwohl unser Ziel, das Willemdok in Antwerpen, noch über 20 Kilometer entfernt ist, kündigt sich bereits die Skyline von Antwerpen an. Wenig später passieren wir die Nordlandbrücke und melden uns ordnungsgemäss auf Kanal 02 an. Die Hafenbehörde will unsere FD-Nummer (FD: Finanzielle Dienstnummer) wissen. Ohne diese Nummer läuft in Antwerpen gar nichts, weil darüber Hafen- und Durchfahrtsgebühren abgerechnet werden. Wenn man noch keine FD-Nummer hat, kann man sich eine FD-Nummer via E-Mail (havenrechten@haven.antwerpen.be) zuteilen lassen. Zusammen mit der FD-Nummer werden im Informatiksystem der Hafenbehörde auch die Masse des Schiffes erfasst.
Wir fahren in den zweitgrössten Hafen Europas ein und haben zugegebenermassen etwas Schmetterlinge im Bauch. Schiffsmanöver in den zahlreichen Docks werden über Kanal 74 angekündigt und es besteht Abhörpflicht. So werden wir nicht überrascht, als ein Gastanker vor uns aus einem Dock herausfährt – der Kapitän der «Sigas Mariner» hat sein Manöver angekündigt. Wegen der Grösse unseres Schiffes müssen wir zwei UKW-Geräte mit ATIS (Automatic Transmitter Information System) in Betrieb haben. Auf dem einen haben wir Kanal 10 (Schiff-Schiff) und auf dem anderen Kanal 74 eingeschaltet. Auf beiden Funkkanälen herrscht Hochbetrieb und wir müssen uns wirklich konzentrieren, um das für uns Wichtige herauszuhören.
Bis zum Willemdok, unserem Ziel, sind es noch 14 Kilometer durch das Hafenlabyrinth. Dank Computer und dem Navigationssystem PC-Navigo finden wir jedoch den Weg problemlos.
Wir staunen wie die kleinen Kinder ob der Schiffe aus aller Herren Länder.
Dann trennen uns nur noch die Siberia- und die Londonbrücke vom Willemdok. Vor der Siberiabrücke bietet sich uns ein hübscher Anblick: Vier beladene Pénichen, oder, wie sie in Belgien heissen, «Spitsen», liegen zu viert im Päckchen nebeneinander.
Wir rufen die Siberiabrücke auf Kanal 62 auf und bitten den Brückenmeister, sie für uns zu heben. Durch das Kattendijkdok fahren wir zur Londonbrücke. Hier müssen wir etwas länger warten, aber schliesslich wird sie doch gehoben. Ein kleines Motorboot fährt uns entgegen, es ist der Hafenmeister des Jachthafens im Willemdok. Er fährt uns voraus, um uns unseren Liegeplatz anzuweisen – Service soigné!
Nach einem langen und anstrengenden Fahrtag machen wir im ältesten Teil des Hafens von Antwerpen fest. Wir liegen nur wenige Fussminuten vom Stadtzentrum entfernt. Spontan beschliessen wir, eine ganze Woche in Antwerpen zu bleiben.