Bericht 16, Juni 2006

Antwerpen – Brüssel

Auch wenn wir fürs Leben gern fahren, so geniessen wir es doch auch, einmal eine ganze Woche in derselben Stadt zu liegen. Nicht nur können wir so eine Stadt gründlich erkunden, in aller Ruhe Museen besuchen und vom kulturellen sowie touristischen Angebot Gebrauch machen. Nein, wir können uns auch die Post nachschicken lassen und längst fällige Unterhaltsarbeiten erledigen.

Zeit für längst fällige Unterhaltsarbeiten

Zeit für längst fällige Unterhaltsarbeiten

Kaum waren wir in Antwerpen angekommen, erhielten wir folgende Mail:

Grüezi Herr Huber

Gestern morgen früh fuhr ich mit dem Fiets am Haven von Burghsluis vorbei und sah eine Schweizerfahne. Meine Vermutung wurde bestätigt, als ich den Namen des Schiffes sah. Seit über einem Jahr lese ich mit Interesse Ihre Tagebücher im Internet. Ich wollte Sie so früh am Morgen nicht stören und bin dann am Nachmittag nochmals vorbeigefahren. Aber da waren Sie schon weg. Wir haben hier in Westenschouwen ein Ferienhäuschen und ein kleines Motorboot (9m) im Grevelingenmeer. Über den Sommer verteilt verbringen wir ungefähr vier Monate in Zeeland. Falls Sie noch in der Nähe sind und Zeit haben, hätte ich Ihnen gerne noch einen kurzen Besuch abgestattet. Sie erreichen mich via Internet oder Tel. xxx.

Mit freundlichen Grüssen Hans Ruedi T.

«Fiets», dies zur Erklärung, ist holländisch für Velo. Wir rufen Hans Ruedi T. an und laden ihn und seine Frau Betty zu uns nach Antwerpen aufs Schiff ein; von Schouwen nach Antwerpen ist es per Auto eine knappe Stunde. Es wird ein fröhlicher Nachmittag bei Kaffee und Kuchen.

Hans Ruedi und Betty hatten zufällig die Schweizerflagge am Heck gesehen

Hans Ruedi und Betty hatten zufällig die Schweizerflagge am Heck gesehen

Und weil am gleichen Tag auch noch die «M.S. Bacchus» unseres Schleusenschifferkollegen Peter Rudolf von Rohr mit seiner Partnerin Marie-Christine und seinen Gästen Willi und Marianne ins Willemdok eingelaufen sind, gibt es anschliessend einen unbeschwerten Schweizerabend im nahe gelegenen Fischbeizli.

Peter Rudolf von Rohr vor seiner «M.S. Bacchus»

Peter Rudolf von Rohr vor seiner «M.S. Bacchus»

Die folgenden Tage widmen wir der Erkundung Antwerpens, das im Mittelalter das wirtschaftliche Zentrum Europas war. Davon zeugt noch heute die architektonische Pracht, welche die jeweiligen Nutzniesser dieses Reichtums entfalteten. Antwerpen war im 16. Jahrhundert – dem goldenen Jahrhundert für die Stadt – das unbestrittene Zentrum der damaligen spanischen Niederlande, die von den Ardennen bis nach Friesland reichten.

Der grosse Markt in Antwerpen

Der grosse Markt in Antwerpen

Zunfthäuser in Antwerpen

Zunfthäuser in Antwerpen

Die vergoldeten Giebelfiguren zeugen vom einstigen Reichtum

Die vergoldeten Giebelfiguren zeugen vom einstigen Reichtum

Der Stolz Antwerpens ist die Liebfrauenkathedrale, die grösste gotische Kirche der alten Niederlande, zu welchen Belgien bis 1830 gehörte. Der 123 Meter hohe Nordturm aus durchbrochenem Sandstein beherrscht die Silhouette der Stadt. In der Kirche hängen nicht weniger als vier Rubens-Gemälde, darunter die Kreuzaufrichtung und die Kreuzabnahme.

Die mächtige Liebfrauenkathedrale

Die mächtige Liebfrauenkathedrale

In Antwerpen lebten Anton van Dyck und Peter Paul Rubens. Beide Maler sind allgegenwärtig und wir entschliessen uns zum Besuch des Rubenshauses. Wohnhaus, Atelier und Garten sind original erhalten, eingerichtet und restauriert. Rubens’ Bilder hängen zwar über die ganze Welt verstreut in Museen und Privatsammlungen, aber Rubens selbst wohnte, lebte und starb in diesem Haus. Möbel und von ihm gesammelte Kunstgegenstände und Bilder versetzen uns zurück in die Zeit, als Rubens hier wohnte.

Das Rubenshaus

Das Rubenshaus

Bei schönem Wetter scheint die Innenstadt von Antwerpen eine einzige, grosse Festbeiz zu sein.

Eine einzige, grosse Festbeiz

Eine einzige, grosse Festbeiz

Von den zahlreichen Museen besuchen wir neben dem Rubenshaus noch deren zwei. Im Modemuseum stellt ein japanischer Designer Kleider aus, welche sicher nie getragen werden. Wir sind enttäuscht (Christian etwas weniger, weil er ohnehin nur wegen Charlotte ins Modemuseum mitkam).

Begeistert sind wir hingegen vom Druckkabinett Plantin-Moretus. Bei diesem Gebäudekomplex handelt es sich um die weltweit einzige Verlagsdruckerei einschliesslich vollständig eingerichteten Wohngemächern, technischer Ausstattung, Bibliothek und Firmenarchiv, die in ihrer ursprünglichen Form aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erhalten blieb. Die Druckerei war bis 1867 in Betrieb. Das Archiv wurde 2001 als «Memory of the World» (UNESCO) anerkannt, der gesamte Gebäudekomplex mit Wohnung und Ateliers wurde 2005 in die UNESCO-Liste des Welterbes aufgenommen.

Der Innenhof des Druckkabinetts Plantin-Moretus

Der Innenhof des Druckkabinetts Plantin-Moretus

Auch in der neueren Zeit ist Bemerkenswertes geschaffen worden. Der 1904 erbaute Hauptbahnhof ist mehr eine Eisenbahnkathedrale als Bahnhof. Der ehemalige 1.-Klasse-Wartsaal gleicht eher einem Ballsaal in Versailles als einem Wartsaal.

Die «Eisenbahnkathedrale» von Antwerpen

Die «Eisenbahnkathedrale» von Antwerpen

Verwunderlich ist, dass niemand die um die gleiche Zeit oder wenig später konstruierten Hebebrücken als technisches Kulturgut wahrnimmt. Ist es deshalb, weil sie nicht in einem Museum stehen, sondern auch heute noch funktionieren?

Eine Hebebrücke mit Gegengewichttechnik als technisches Kulturgut

Eine Hebebrücke mit Gegengewichttechnik als technisches Kulturgut

Die Gegengewichtskonstruktion ist zusammengefaltet, die Brücke offen

Die Gegengewichtskonstruktion ist zusammengefaltet, die Brücke offen

Ein Tinguely-Luginbühl-Dinosaurier

Ein Tinguely-Luginbühl-Dinosaurier

Nach einer Woche laufen wir aus dem Willemdok aus. Unser nächstes Ziel ist Brüssel. Zuerst fahren wir auf der Seeschelde, einem Gezeitengewässer. Laut Gezeitentabelle ist an diesem Tag um 09.30 Uhr Niedrigwasser. Das bedeutet, dass wir mit der Flut im Rücken, also mit der Strömung fahren können. Bis zur Seeschelde müssen wir zwei Hebebrücken und eine stark frequentierte Schleuse passieren, weshalb wir um 08.30 Uhr auslaufen. Wir haben Glück, vor den beiden Brücken müssen wir kaum warten und in der Royerschleuse wird uns per Funk ein Platz bei der nächsten Schleusung zugewiesen.

Ein letzter Blick auf die Skyline von Antwerpen mit der Liebfrauenkathedrale…

Adieu Antwerpen

Adieu Antwerpen

…und wir sind auf der Seeschelde. Unsere Gezeitenberechnung erweist sich als richtig. Unsere normale Reisegeschwindigkeit ist etwa 10 km/h, jetzt sind es dank der einlaufenden Flut 17 km/h. Was «Niedrigwasser» bedeutet, illustriert ein Frachtschiff, das bei Flut, also Hochwasser, zum Entladen am Quai vertäut hat und jetzt buchstäblich auf dem Trockenen sitzt.

Ein Schiff sitzt auf dem Trockenen

Ein Schiff sitzt auf dem Trockenen

Bis zur mächtigen Schleuse von Wintam fahren wir mit der Strömung. Im Schleusengebäude kaufen wir die Vignette für die flandrischen Kanäle und bezahlen dafür € 50. In Wallonien wird es dann wieder ganz anders sein, dort gibt es den Papierkrieg umsonst. Von der Schleuse Wintam an befinden wir uns auf dem Seekanal Brüssel-Schelde, also keine Gezeiten mehr.

Aus unseren Unterlagen wissen wir, dass es für Nicht-Berufsschiffe in Brüssel nur den Hafen des Königlich Belgischen Yachtclubs als Anlegestelle gibt. Vor Brüssel rufen wir deshalb dem Hafenmeister an, der aber «très désolé» ist, dass er heute keinen Platz mehr für ein Schiff von 23 m Länge hat («Vôtre longueur est vraiment 23 mètres???»). Aber Kinette ist schliesslich ein Ex-Berufsschiff und so verbringen wir die Nacht an einem Liegeplatz zusammen mit Berufsschiffern, die uns sogar beim Anlegemanöver die Taue abnehmen.

Mit der Berufsfahrt am Quai

Mit der Berufsfahrt am Quai

Am nächsten Morgen telefonieren wir wieder mit dem Hafenmeister, der nicht untätig geblieben ist, ein paar Boote verschoben hat und sich auf unser Kommen freut. Das hat natürlich auch mit dem königlichen Liegegeld von nicht weniger als € 1.55 per Meter Schiffslänge zu tun. Das Liegegeld, der Name und die Nähe zum königlichen Wohnsitz sind dann aber auch das einzig Königliche an diesem leicht heruntergekommenen Hafen. Wenigstens ist die Aussicht auf das gegenüberliegende Kanalufer idyllisch, denn dort herrscht in der Brüsseler Kehrichtverbrennungsanlage rund um die Uhr Hochbetrieb.

Der Wohnsitz unserer Nachbarn, des belgischen Königspaars

Der Wohnsitz unserer Nachbarn, des belgischen Königspaars

Aber wir liegen (einigermassen) ruhig und sicher, der Hafenmeister ist sehr freundlich, wir haben Strom und Wasser, und von der nahe gelegenen Tramhaltestelle sind wir in zwanzig Minuten im Zentrum von Brüssel.

Brüssel! Es rühmt sich seiner Museen, seiner Gastronomie und seiner Confiserien. Es gibt rund hundert Museen in Brüssel, vom Biermuseum über das Kanalisationsmuseum, das Strassenlaternenmuseum und das Informatikmuseum bis zum Polizeimuseum. Wir benützen einen regnerischen Tag für den Besuch des Musée Royale des Beaux Arts mit seinen acht unterirdischen Stockwerken.

Der «Grote Markt» von Brüssel

Der «Grote Markt» von Brüssel

Das Herz der Stadt ist sicher der grosse Marktplatz, von dem Cocteau gesagt hat, er sei das schönste Theater der Welt.

Auf dem grossen Markt ist eine riesige Freilichtbühne aufgebaut, weil hier am Abend die Oper «I Pagliacci» von Ruggiero Leoncavallo aufgeführt werden soll. Am späten Nachmittag findet die Generalprobe statt, und so kommen wir unverhofft in den Genuss einer Opernaufführung. Für Opernliebhaber: Kazushi Ono dirigiert, Latonia Moore singt die Nedda, Carl Tanner den Canio, Lucio Gallo den Tonio, Francesco Meli den Peppe und Troy Cook den Silvio.

 

Generalprobe einer Opernaufführung auf der Grand-Place

Generalprobe einer Opernaufführung auf der Grand-Place

Die Confiserien, Pralinéhersteller und Schokoladefabrikanten sind in Brüssel allgegenwärtig. «La Cure Gourmande» gefällt uns sowohl von aussen als auch von innen.

Eine Brüsseler Confiserie von aussen ...

Eine Brüsseler Confiserie von aussen …

... und von innen

… und von innen

Und auch wenn es für uns Schweizer beinahe einem Landesverrat gleich kommt, so können wir die hier fabrizierten Schokoladen nicht anders als unvergleichlich bezeichnen.

Die Fussball-WM können wir mangels TV-Empfang nur rudimentär verfolgen. Immerhin erblicken wir im Brüsseler Passantengewühl einen Schweizer-Fan mit «unserem» Fussball-Leibchen.

Ein einsamer Schweizer Fussballfan in Brüssel

Ein einsamer Schweizer Fussballfan in Brüssel

Das Ereignis des Abends ist allerdings das (mühsam erkämpfte) 1:0 von Italien gegen Australien. Die italienischen Fans veranstalten in der Brüsseler Innenstadt ein Riesenfest mit Hupkonzert, Flaggen und Autokorso – es scheint, als hätte es an diesem Abend in Brüssel mehr Italiener als Belgier!

Italienerfest in Brüssel

Italienerfest in Brüssel

Was die Königs- und erzbischöflichen Paläste im Mittelalter waren, sind die Verwaltungsgebäude der Europäischen Union in Brüssel. In einem Museum lasen wir einen Text, wonach den modernen Architekten gelungen sei, was die Deutschen in zwei Kriegen nicht fertig gebracht hätten: Die Vernichtung baulicher Zeitzeugen. Wo früher der weltliche und geistliche Adel residierte, residiert heute der europäische Beamtenadel.

Der Sitz der Europäischen Kommission

Der Sitz der Europäischen Kommission

Um diese Verwaltungspaläste überhaupt fotografieren zu können, mussten wir das ganz grosse Weitwinkelobjektiv montieren …

Ein Aufenthalt in Brüssel wäre unvollständig ohne einen Besuch des Atomiums, 1958 für die Weltausstellung errichtet und 2005 völlig renoviert. Es besteht aus einer mit Aluminium verkleideten Stahlkonstruktion und ist 102 Meter hoch. Die neun Kugeln haben einen Durchmesser von jeweils 18 Metern. Der Aufzug in der Mittelröhre ist mit 5 Metern pro Sekunde einer der schnellsten Europas. In einer dieser Kugeln treffen wir zufällig das Ehepaar Fehr aus Wangen bei Dübendorf, das uns erkennt, worauf sich das Gespräch von selbst ergibt.

Das Atomium, wie man es kennt

Das Atomium, wie man es kennt

Im Innern des Atomiums: Eine Rolltreppe

Im Innern des Atomiums: Eine Rolltreppe

Blick vom Atomium in die Tiefe

Blick vom Atomium in die Tiefe

Es bleibt uns die abschliessende Bemerkung, dass auch die Schweiz in Brüssel prominent vertreten ist. Dies stellten wir jedenfalls bei einem Blick in das Schaufenster eines Traiteurs fest. Wir hoffen, dass es unsere Walliser Freunde nicht verübeln, wenn wir anfügen, dass unser Heimweh gar nie so schlimm sein kann, dass wir Fendant trinken würden…

Die Schweiz in Brüssel

Die Schweiz in Brüssel

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