Dinant – Namur – Charleroi – Strépy-Thieu – Charleroi – Erquelinnes
(Basse Sambre, Canal de Bruxelles à Charleroi, Canal du Centre, Canal historique du Centre, Haute Sambre; 198.45 km; 21 Schleusen, 1 Schiffslift, 4 Schiffshebewerke, 4 Hebebrücken, 2 Drehbrücken)
Von Dinant aus geht es auf der Maas wieder zurück nach Namur, diesmal zu Tal. Auf grossen Wasserstrassen mit viel Berufsschifffahrt haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, uns jeweils schon aus einem halben Kilometer Entfernung per Funk bei den Schleusen anzumelden:
«Écluse de Houx pour bateau Kinette» (So wird die Schleuse aufgerufen)
«Kinette, je vous écoute» (Antwort der Schleuse)
«Petite péniche de plaisance avalante» (Kleine Freizeitpéniche auf Talfahrt)
Es ist wichtig, dass man dem Schleusenwärter angibt, ob man zu Berg oder zu Tal fährt, weil er je nachdem die Schleuse leeren oder füllen muss. «Avalant» ist der Talfahrer, «montant» der Bergfahrer. Die Antwort kann dann unterschiedlich lauten. Im Idealfall heisst es: «L’écluse est prête pour vous, Monsieur». Vielleicht erhält man aber auch die Auskunft, es warteten schon Schiffe oberhalb und/oder unterhalb der Schleuse und man sei dann mit der dritten Schleusung – «la troisième bassinée» – an der Reihe. In jedem Fall wissen Schleuse und Schiff voneinander und können sich entsprechend einrichten.
Auf der Zuidwillemsvaart in Limburg ist es uns übrigens auf der Fahrt nach Namur bei der Schleuse Panheel passiert, dass der Schleusenwärter bei unserer Anmeldung antwortete, er habe uns – dank unserem AIS[1] – schon lange (auf seinem Bildschirm) gesehen und die Schleuse sei bereit. Es stellte sich heraus, dass bereits zwei Frachtschiffe in der Schleuse waren und zehn Minuten auf uns hatten warten müssen, weil der Schleusenwärter Wasser sparen und nicht unnötig schleusen wollte.
Jedenfalls kommen wir auf der Maas zügig voran, die Wartezeiten vor den sechs Schleusen zwischen Dinant und Namur sind nur kurz und wir legen die Strecke von knapp 29 km in viereinhalb Stunden zurück.
In Namur nehmen wir Freunde aus der Schweiz, Bea und Armin Schnellmann an Bord. Mit ihnen wollen wir auf der Sambre und dem Canal Bruxelles-Charleroi zum Schiffslift von Strépy-Thieu fahren.
Das Teilstück Namur–Charleroi ist noch heute durch die einstmals blühende Stahl- und Kohleindustrie geprägt. Allerdings ist der Niedergang unübersehbar und trotz aller Anstrengungen ist der Strukturwandel noch nicht gelungen.
Heute wird in und um Charleroi hauptsächlich Schrott verarbeitet, der mit Binnenschiffen angeliefert wird. Der Schrott wird sortiert und dann eingeschmolzen.
Offensichtliches Relikt des ehemaligen Kohlebergbaus ist ein Kohlekraftwerk, welches immer noch in Betrieb ist.
Dass dieses Kraftwerk eine Dreckschleuder erster Güte ist, interessiert im post-Fukushima-Zeitalter niemanden mehr. Hauptsache, es ist kein Kernkraftwerk. Nur nebenbei bemerkt: Kohle enthält auch Uran und der weltweite Uranausstoss aus Kohlekraftwerken wird auf jährlich 10’000 Tonnen Uran geschätzt. Who cares?
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Westlich der Schleuse von Marcinelle biegen wir in den Canal Bruxelles Charleroi ein. Er hat seine Existenz den grossen Kohlevorkommen in der Region von Charleroi zu verdanken, wurde im Jahr 1832 eingeweiht und im Laufe der Jahrzehnte ausgebaut für Schiffe bis 1’350 Tonnen.
Zu unserer Überraschung ist der Canal Bruxelles-Charleroi nicht einfach eine sterile, künstlich angelegte Wasserstrasse, sondern er folgt der Topographie und fügt sich harmonisch in die Landschaft ein.
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Bei Seneffe, 26 Kilometer und 3 Schleusen nach Charleroi, biegen wir über Backbord in den Canal du Centre ein. Dieser Kanal wurde zwischen 1882 und 1917 als Verbindung zwischen dem Seine- und dem Scheldebecken gegraben. Man wollte damit eine direkte Achse Frankreich-Deutschland bauen. Die grosse Herausforderung für die Kanalbauer war der Höhenunterschied von 96 Metern zwischen den beiden Becken. Sie entschieden sich für den Bau von vier Schiffshebewerken und sechs Schleusen. Mit diesen vier Schiffshebewerken werden wir uns später noch näher befassen. Unser Augenmerk richtet sich vorerst auf die moderne Nachfolgekonstruktion, den Schiffslift von Strépy-Thieu.
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Die vier alten Schiffshebewerke konnten Schiffe bis zu maximal 38,5 Meter Länge und 5.10 Meter Breite («Gabarit Freycinet») heben und senken. Dieser in Frankreich «Péniche» und in Belgien «Spits» genannte Schiffstyp transportiert rund 365 Tonnen Last. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde europaweit neu ein Schiffstyp mit einer Nutzlast von 1350 Tonnen und 110 m Länge eingeführt. Kanäle, Schleusen und Hebewerke mussten entsprechend angepasst werden.
Die belgischen Behörden entschieden sich, die vier Schiffshebewerke mit einem neu gegrabenen, 12 km langen Kanal-Teilstück zu umfahren und sie durch einen einzigen Kabel-Schiffslift zu ersetzen.
Das – zusammen mit allen notwendigen Erdbewegungsarbeiten und Kunstbauten – von 1982 bis 2002 erbaute Liftgebäude hat eine Gesamthöhe von 117 Metern, eine Länge von 130 Metern und eine Breite von 75 Metern. Überwunden wird ein Höhenunterschied von 73.15 Metern. Die Gesamtkosten des Bauwerks beliefen sich auf über 600 Millionen Euro.
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Wir melden uns über Funkkanal 20 beim Kontrollturm an und erhalten den Beschied, dass wir in einer halben Stunde in die Steuerbordwanne einfahren können. Die beiden Wannen, welche unabhängig voneinander funktionieren, haben eine nutzbare Länge von 112 Metern und Breite von 12 Metern. Jede Wanne ist leer 2’000 Tonnen schwer, mit Wasser gefüllt wiegt sie 8’000 Tonnen, hat 8 Gegenwichte von je 1’000 Tonnen und ist an 112 dicken Stahlkabeln aufgehängt.
Wir fahren zusammen mit zwei anderen Freizeitschiffen – Berufsfahrt ist an diesem Sonntag nicht unterwegs – in die Steuerbordwanne. Langsam senkt sich das bergseitige schwere Hebetor und die Wanne wird wasserdicht geschlossen. Dann beginnt sich die Wanne mit einer Geschwindigkeit von 20 Zentimetern pro Sekunde zu senken. In rund sechs Minuten sind wir unten angelangt. Aussen- und Innendruck am talseitigen Hebetor werden ausgeglichen, das Tor wird gehoben und wir können auf dem Kanal weiter fahren – 73 Meter tiefer unten.
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Etwas über einen Kilometer weiter unten legen wir am frühen Nachmittag vor der Schleuse von Thieu an, durch welche man in den alten Zentrumskanal, den Canal du Centre historique, gelangt. Wir wollen das volle Programm durchziehen und über die historischen Schiffshebewerke zurückfahren. Wir erkundigen uns beim Schleusenwärter, ob das überhaupt möglich sei. Aber sicher, meint er, er melde uns für den nächsten Tag bei der «équipe mobile» an, welche uns begleiten werde. Wir nutzen den Nachmittag für einen Besuch der Ausstellung über den Bau des Schiffsliftes.
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Im Wissen darum, dass dieser Bericht nun vollends techniklastig wird, befassen wir uns nicht nur mit der Geschichte, sondern auch mit der Funktionsweise dieser zum Teil 130 Jahre alten(!) Schiffshebewerke. Vielleicht können Sie dann ja unsere Begeisterung etwas nachvollziehen.
Das erste der vier Schiffshebewerke (Ascenseur Nr. 1 Houdeng-Goegnies), von denen jedes ausschliesslich mit Wasserkraft einen Höhenunterschied von rund 17 Metern überwindet, wurde 1888 von König Baudoin II. eingeweiht, die anderen drei Hebewerke wurden wegen ökonomischer Bedenken und des Ausbruchs des I. Weltkriegs erst 1917 fertiggestellt und 1919 in Betrieb genommen.
Die vier Schiffshebewerke stellen einen Geniestreich der damaligen Ingenieurskunst und des Metallbaus dar. Zu Recht wurden sie 1998 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.
Bis vor kurzem war das Schiffshebewerk Nr. 1 defekt und nicht funktionsfähig. Die équipe mobile versichert uns aber einigermassen glaubwürdig, es sei wieder repariert, «offiziös, aber noch nicht offiziell freigegeben» und wir könnten es als eines der ersten Schiffe benützen. Freundlich erkundigt sich der Leiter der mobilen Equipe, ob wir unterwegs noch Einkäufe tätigen müssten? In Bracquegnies, zwischen Ascenseur Nr. 4 und Nr. 3, sei heute Markt. Wir könnten dort anlegen und ihm einfach «un coup de téléphone» geben, wenn wir weiter zu fahren wünschten. Natürlich machen wir von diesem Angebot, uns marktfrisch zu verproviantieren, gerne Gebrauch. Im obersten Hebewerk, der Nr. 1, können wir überdies noch (gratis) Wasser bunkern.
Auch wenn es schwer zu glauben ist: Sowohl die Benützung des Schiffsliftes von Strépy-Thieu als auch diejenige der historischen Schiffshebewerke samt Begleitmannschaft für Lifte und Drehbrücken ist gratis. Angesichts der immensen Amortisations-, Unterhalts- und Personalkosten ist das nicht nachvollziehbar. Wie lange das wohl gut gehen wird?
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Wenden wir uns der Funktionsweise der vier Schiffshebewerke zu. Am besten vergleicht man sie mit einer riesigen Waage, bei welcher jede Waagschale 1’000 Tonnen wiegt. Diese immensen Waagschalen sind technisch gesehen Schleusenkammern von 43 Metern Länge und 5.80 Meter Breite, welche vorne und hinten mit einem Hebetor versehen sind.
Die Schleusenkammern sind 2.40 Meter hoch mit Wasser gefüllt. Da der obere Kanalabschnitt vor dem Hebewerk jeweils 30 cm tiefer ist als der untere, steht das Wasser in der oberen Schleusenkammer 30 cm höher als in der unteren, was eine Gewichtsdifferenz von 75 Tonnen ausmacht.
Jede Schleusenkammer ruht auf einem riesigen Kolben von 2 Metern Durchmessern, der in einem mit Wasser gefüllten Zylinder steht, welcher seinerseits mit dem Zylinder der zweiten Schleusenkammer nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren verbunden ist. Die Verbindungsröhre zwischen den beiden Zylindern kann mit einem Ventil geöffnet und geschlossen werden. Wird das Ventil geöffnet, sinkt die obere, schwerere Kammer und drückt über die Verbindungsröhre die untere Kammer nach oben. Ob in jeder Kammer ein Schiff ist und welches Gewicht dieses Schiff aufweist, ist unerheblich, da es Wasser im Ausmass seines eigenes Gewichts aus der Schleusenkammer verdrängt hat (archimedisches Prinzip).
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Wir geben freimütig zu, dass wir mit leichtem Herzklopfen in den «offiziös, aber noch nicht offiziell freigegebenen» Ascenseur 1 einfahren, dass wir mit verstärktem Herzklopfen verfolgen, wie wir völlig lautlos, nur durch das Gewicht des Wassers, emporgleiten, und wir gestehen auch, dass wir sehr, sehr erleichtert sind, wie das bergseitige Tor, ebenfalls nur mit Wasserkraft, gehoben wird, und wir Zentimeter um Zentimeter – immerhin schieben wir 48 Tonnen Wasser vor uns her, die hinter uns wieder hineinströmen müssen – aus der Schleusenkammer ausfahren können.
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Wir fahren auf dem Canal du Centre die gleiche Strecke wieder zurück, biegen dann aber kurz vor Charleroi hart über Steuerbord in die Haute Sambre ein. Schlagartig wird es idyllisch und wir fühlen uns an die kleinen Wasserstrassen in Frankreich erinnert.
Die Haute Sambre mäandert als kleines Flüsschen durch die sanft hügelige wallonische Landschaft und wurde mit kleinen Schleusen der für Schiffe Freycinet-Grösse (38.5 x 5.1 m) schiffbar gemacht. Eigentlich ist die Sambre die Verbindung zwischen Belgien und Frankreich und eigentlich käme man von der Sambre auf die Oise und über diese zur Seine. Eigentlich. Denn vor einigen Jahren stürzte bei Vadencourt, im französischen Teil der Sambre, eine Brücke ein. Anfänglich stritten sich die zuständigen französischen Orts-, Regional- und Departementsbehördne ergebnislos, wer für die Kosten der Reparatur aufzukommen habe. Als dann die Finanzierung stand, konnten sie sich nicht einigen, wer inskünftig für den Betrieb dieser Wasserstrasse zuständig sei: Die Region oder die Wasserwegbehörde (Voies Navigables de France VNF). Der Streit dauert an, derweil die Schifffahrt auf der Sambre unterbrochen ist und der französische Teil der Sambre langsam, aber sicher verschlammt.
Derweil restaurieren die belgischen Behörden die Sambre-Schleusen liebevoll, um die Freizeit- und etwas Berufsschifffahrt wenigstens bis zum Grenzhafen Erquelinnes atttraktiv zu machen.
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Es gilt in den Kreisen der Freizeitschiffer als chic, über Belgien, vor allem den wallonischen Teil, herzuziehen. Es sei schmutzig, vernachlässigt, nichts funktioniere, und der beste Weg von den Niederlanden nach Frankreich durch Belgien sei der kürzeste. Natürlich hat namentlich Wallonien nach dem Zusammenbruch der Schwerindustrie mit grossen strukturellen Problemen zu kämpfen. Natürlich wirken die verfallenen Industriebauten verwahrlost. Aber die Wasserwege sind (noch?) gut unterhalten, die Schleusenwärter professionell und zuvorkommend, die Schifffahrt ist – im Gegensatz zu Flandern und zu Frankreich –, gratis, die Liegeplätze sind durchwegs günstig und die Wallonen selbst von einer ansteckenden Lebensfreude. «Italiener des Nordens» werden sie in den Niederlanden mit einem hörbar neidischen Unterton genannt.
Einen so professionellen, zuvorkommenden Funkverkehr, wie wir ihn eingangs geschildert haben, muss man in Frankreich suchen. Und zwar lang. Was den Schmutz anbetrifft: Wir waren in der zweiten Junihälfte aus familiären Gründen einige Tage in der Schweiz. In Bezug auf versprayte Hausmauern, zerkratzte Scheiben in den Zügen, weggeworfene Bierbüchsen und anderen Abfall an Radwegen und Autobahneinfahrten sieht es in der Schweiz mittlerweile so dreckig und unappetitlich aus wie in anderen Ländern auch.
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Aus dem Logbuch
- Dinant. Pontons mit Strom und Wasser am linken und rechten Maasufer in der Stadt. Direkt in der Stadt ziemlich laut. Unterhalb des Casinos langer Ponton mit Strom (nur 6 Amp!) und Wasser (1 Euro pro Jeton gleich 10 Min Wasser). Ziemlich heruntergekommen. Gut liegt man etwas maasaufwärts, vor dem Casino, wenn auch ohne Fazilitäten, dafür gratis. Eine Wanderung zur Zitadelle hinauf beschert eine schöne Aussicht auf eine im Verkehr erstickende und schmutzig graue Stadt mit einer schmutzig grauen Kathedrale.
- Namur. Unterhalb Schleuse «La Plante» am rechten Ufer im Jachthafen Jambes (alle Fazilitäten, kostenpflichtig) oder für richtige Schiffe am linken Ufer am langen Quai vor dem Casino. Keine Fazilitäten, kostenpflichtig. Alle Einkaufsmöglichkeiten. Zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Wanderung zur Zitadelle hinauf lohnt sich! Reiche gastronomische Auswahl. Unser Tipp: Fischrestaurant «Les Embruns». Reservieren! Nicht einmal in Marseille haben wir eine bessere Bouillabaisse gegessen!
- Erquelinnes. Hafenbecken, welches durch eine Einfahrt unter der Eisenbahnlinie (Max. Höhe 4.20 m, Breite 5.20 m) von der Sambre aus angefahren wird. Strom und Wasser, Duschen, Waschmaschine und Tumbler in der Capitainerie. Kostenpflichtig. Wenig Passantenschiffe, hauptsächlich Daueraufenthalter. Die Zufahrt für Autos wird nachts abgeschlossen. Bahnhof mit Verbindung nach Charleroi ca. 20 Fussminuten. Erquelinnes hat alle Einkaufsmöglichkeiten (Lidl, Aldi, Delhaize, Colruyt etc.), aber keine kulturellen Sehenswürdigkeiten.
[1] AIS ist die Abkürzung für Automatic Information System. Eine Kombination aus GPS und Sender übermittelt laufend Schiffsname, MMSI (Maritime Mobile Service Identity), Position, Kurs und Schiffsgröße an andere, ebenfalls mit AIS ausgerüstete Schiffe, Verkehrsleitzentralen und Schleusen.