Cappy-sur-Somme – Saint-Valery-sur-Somme
(Canal de la Somme; 58.44 km, 14 Schleusen, 1 Hebebrücke)
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Seit Ende Juni befinden wir uns auf der Somme, welche von Péronne bis zur Einmündung in den Ärmelkanal bei Saint-Valery befahrbar ist und dem Département den Namen gegeben hat.
Es gibt mehrere Gründe, dieses Gebiet zu befahren. Einmal ist die Somme als Fahrwasser gut unterhalten, obwohl es keine Berufsschifffahrt mehr hat. Das macht die Somme auch für Mietbootfahrer attraktiv und dafür sorgt auch die gepflegte Mietbootbasis der Firma Locaboat in Cappy. Auf der ganzen befahrbaren Strecke hat es immer wieder Liegeplätze, zum Teil mit Strom und Wasser.
Sodann ist das Tal der Somme landschaftlich sehr reizvoll. Der Kanal – mehr munter strömender Fluss als Kanal – schlängelt sich durch das Tal, links und rechts gesäumt von Weihern, Tümpeln, kleinen Seen und Sumpfgebieten – ein Mekka für Fischer!
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Und nicht zuletzt war die Somme im Ersten Weltkrieg Schauplatz dermassen blutiger Schlachten, wie wir sie uns gar nicht vorstellen können. Ein Beispiel: Vor der Somme-Offensive vom Juli 1916 liessen die britischen Truppen während sieben Tagen und Nächten über den Stellungen der deutschen Front ein Gewitter von anderthalb Millionen Geschützgranaten nieder, welche die gesamte Landschaft umpflügten und einebneten.
Am 1. Juli 1916 brachen die Alliierten aus ihren Stellungen hervor in der seligen Gewissheit, dass auf der Gegenseite nicht einmal eine Maus überlebt hatte. Aber die Deutschen hatten sich eingegraben und taugliche Unterstände errichtet. Als die Briten, teilweise mit Dudelsackbegleitung, in dichten Schützenreihen im Marschtempo vorrückten, brachten die Deutschen ihre Maschinengewehre in Stellung und mähten die gegnerischen Infanteristen buchstäblich nieder. Die Deutschen hatten vermutlich nur zwei Probleme: Die Läufe der Maschinengewehre dürften glühend heiss geworden sein und es musste laufend Munition herangeschafft werden.
Die Briten verloren in der ersten halben Stunde(!) über 8’000 Mann und an diesem Tag(!) knapp 60’000 Mann durch Tod und Verstümmelung. Ganze Divisionen wurden ausgelöscht. Es ist bis heute der schwärzeste Tag in der britischen Militärgeschichte geblieben. Bis Ende des Ersten Weltkrieges fielen auf den Schlachtfeldern der Somme über 1 Million Mann. «Nothing but stupid mutual mass-slaughter», nichts als eine stupide gegenseitige Massenschlächterei, nannte es der britische Militärhistoriker Basil Liddell Hart.
Heute sind die Narben des Krieges geheilt, es blüht der Mohn und die Dörfer und Städte sind wieder aufgebaut. Die Landschaft ist traumhaft.
Der Legende nach stammt das Rot der allgegenwärtigen Mohnblumen vom Blut der Gefallenen.
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Das Wetter in der Picardie ist in der ersten Hälfte Juli – wie in ganz Nordeuropa – zum Abgewöhnen. Wenn es einmal zwei Stunden nicht regnet, empfindet man das schon als Trockenperiode. Das tägliche Gewitter kommt zuverlässig. Die Somme strömt mit 5 km/h so stark, dass wir zehn Tage in Amiens, der Hauptstadt der Picardie (126’000 Einwohner) liegen bleiben.
Menschen, die wie wir mehr oder weniger ganzjährig auf dem Wasser leben, verfügen – Internet sei Dank – über ein dichtes Netzwerk, durch welches ein ständiger Austausch von Informationen stattfindet. Auf diesen Internetforen hat Amiens keinen guten Ruf: Betrunkene, die nachts aufs Schiff klettern und lärmige Umgebung.
In den ersten zwei Nächten haben wir tatsächlich unerwünschten Besuch. Martin Selz, ein Freund, der in der Gästekajüte schläft, erwacht sofort und verscheucht die Gruppe Jugendlicher beide Male heldenhaft. Das zweite Mal lassen sie eine alte Kühlbox mitlaufen. Den teuren Grill versuchen sie auch zu klauen, wir haben ihn aber immer angekettet. Nach diesen Erlebnissen räumen wir alles, was nicht niet- und nagelfest ist, unter Deck. Fortan haben wir Ruhe.
Warum bleiben wir dennoch zehn Tage in Amiens? Erstens wegen der bereits erwähnten Strömungsverhältnisse, zweitens weil Amiens trotz aller Widerwärtigkeiten sehr viel zu bieten hat. Man kann einfach nicht alles haben!
So ist das Spektakel «Son et Lumière» schlicht grossartig. Mit Hilfe riesiger Lichtkanonen, welche millimetergenau justiert sind, erstrahlen die grauen Steine der Kathedrale – sie ist doppelt so gross wie Notre Dame de Paris! – nachts in der faszinierenden Farbenpracht, wie sie einst bemalt gewesen sein sollen.
Ein absolutes Muss ist eine Bootsfahrt durch die «Hortillonnages», ein bereits von den Römern mit Hilfe unzähliger kleiner Kanälchen und Wassergräben trockengelegtes Torfgebiet von über 300 Hektaren Ausdehnung. Seit Jahrhunderten werden auf diesem äusserst fruchtbaren Boden (drei Ernten pro Jahr sind normal!) von Gemüsebauern und Schrebergärtnern Blumen, Beeren und Gemüse angepflanzt.
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Am 21. Juli laufen wir in Amiens aus und fahren zu Tal. Es hat nach den vielen Regenfällen immer noch starke Strömung. Weil sich die nicht sehr breite Somme in engen Windungen durch Wald und dichtes Gebüsch schlängelt und weil es lange geregnet und deshalb starke Strömung hat, ist das Befahren beinahe wie Riverrafting, einfach mit 23 m Länge und 48 Tonnen Gewicht. Wir müssen die engen Kurven jeweils sauber anschneiden, damit wir mit dem Heck genug Raum zum Ausschwingen haben und quer durch die Kurven sliden können. Das ist höchste Konzentrationsarbeit. Man muss höllisch aufpassen, denn falls ein Schiff stromaufwärts entgegen käme, würde es echt eng!
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Die Gegend hat so viel zu bieten, dass es schwer verständlich ist, warum wir unterwegs nur wenig andere Schiffe und Boote antreffen. Zu diesen Attraktionen gehört beispielsweise der grosse prähistorische Naturpark «Samara», der direkt an der Somme liegt und über einen eigenen kleinen Anlegesteg verfügt…
Ein wahres Paradies für Kinder sind die zahlreichen Workshops, wo unter Anleitung von Archäologiestudenten die Steinzeit gelebt wird.
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Unsere weiteren Stationen sind Picquigny, Long, Pont-Rémy, Abbeville und Saint-Valery-sur-Somme mit seiner grossartigen Baie de Somme, der Somme-Bucht, welche bei Ebbe weitgehend trocken fällt.
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Vor der Schleuse von Picquigny wird Wasser von der Somme über ein Wehr in einen Seitenarm geleitet, der nach der Schleuse wieder in den Kanal mündet. In der Nähe befindet sich ein Kanu- und Riverrafting-Zentrum, in welchem Sommerlager für Jugendliche stattfinden.
Wenn es im Schuss das Wehr hinuntergeht, ist das immer ein Riesenspass.
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In Picquigny lernen wir auch das sympathische Schweizer Ehepaar Hans und Monica Räber kennen, welche mit ihrem holländischen Neubau «Baba Jaga» unterwegs sind.
In Abbeville liegen wir wieder gemeinsam im Hafen, was zu einem ausgedehnten und fröhlichen Schweizerabend führt.
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Long ist einwohnermässig ein ziemlich bescheidenes Dorf. Niemand sähe ihm an, dass es einst eines der reichsten Dörfer Frankreichs war. Der Reichtum stammte vom Torf, der hier im 19. Jahrhundert im grossen Stil gestochen wurde. Der Bürgermeister, Comte de Rouvroy, bewohnte das Château de Long und residierte in einem nicht minder eindrücklichen Gemeindehaus, der Mairie.
Das Schloss wurde 1733 vom adligen Herrn von Buissy erbaut. Es erlebte verschiedene adlige Besitzer und im Zweiten Weltkrieg weniger adlige Besetzer. Nachdem Letztere auf ihrem etwas überstürzt angetretenen Heimweg alles mitgenommen hatten, was nicht niet- und nagelfest war, hausten hier nur noch Krähen und Fledermäuse. 1964 kaufte ein reiches französisches Ehepaar Gebäude und Park, liess es wieder im alten Glanz erblühen und bewohnt es noch heute.
Den Reichtum aus der Torfgewinnung liess der Bürgermeister allen Einwohnern der Gemeinde zukommen. Ein 1902 erbautes und zu seiner Zeit revolutionäres Wasserkraftwerk lieferte kostenlos Strom in alle Haushaltungen, ebenso verfügten sie alle über fliessendes Wasser.
Das Wasserkraftwerk erzeugte bis 1964 Strom mit einer Spannung von 110 Volt, dann setzte sich die Spannung 220 Volt durch. Das Wasserkraftwerk ist immer noch funktionsfähig und kann, wie Schloss und Schlosspark, besichtigt werden.
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Von Abbeville nach Saint-Valery ist die Somme nichts als ein 13 Kilometer langer, schnurgerader Kanal. Wir verzichten auf das Befahren dieser Strecke, aber weil die Baie de Somme als eine der schönsten Meeresbuchten Frankreichs überhaupt gilt, mieten wir in Abbeville ein Auto – eine Autogarage liegt direkt gegenüber am Kanal – und erkunden die Gegend für einmal auf vier Rädern.
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«Abbeville» bedeutet «Stadt der Äbte» und was das bedeutet, bekam der 19jährige Chevalier de la Barre ziemlich drastisch zu spüren. Der junge Mann, an den heute ein Denkmal beim oberen Hafen erinnert, unterliess es, eine katholische Prozession zu grüssen. Dafür wurde er am 1. Juli 1766 zuerst gefoltert und dann lebendig verbrannt.
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Von der 60-Zentimeter-Schmalspurbahn von Froissy haben wir schon erzählt. Auf einer etwas breiteren Schmalspur fährt der «Petit train touristique» rund um die Somme-Bucht.
Hier wird alles geboten, was des Dampfbahnfans Herz höher schlagen lässt, inklusive Umspannen der Lokomotiven und Drehscheibenmanövern.
Und weil es so schön ist, gleich noch eine Fotografie ins Album der Dampfbahnfans.
Bleibt uns noch, die Baie de Somme, also die Somme-Bucht, vorzustellen. Sie ist so atemberaubend schön, dass uns die Worte fehlen. Und das will etwas heissen!
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In der Sommebucht lebt die grösste Robbenkolonie Frankreichs. Bei Ebbe finden geführte Wanderungen statt und, wenn man Glück hat, bekommt man die Robben sogar – wenn auch aus angemessener Distanz – zu Gesicht. Wir haben nicht nur Glück, wir haben unverschämtes Glück.
Die Robben scheinen sich richtiggehend in Positur zu werfen. Fotogen sind sie jedenfalls!
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Und weil die Stimmungen in der Baie de Somme so magisch sind, noch eine Abendstimmung.
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Südwestlich von Saint-Valery-sur-Somme liegt das Dorf Ault, das den Übernamen «Balkon auf das Meer» trägt. Es thront hoch über dem Meer auf Kreidefelsen, den Falaises. Victor Hugo hat von ihnen geschwärmt und zahlreiche Maler haben sich von diesem unwirklichen Licht bezaubern lassen.
Aus dem Logbuch
- Cappy. Liegemöglichkeiten oberhalb der Locaboat-Basis (kein Wasser/Strom) oder für Schiffe <15m an Fingerpontons (Wasser und Strom (16 Amp) 5 Euro pro Tag). Restaurant «L’Escale de Cappy» von Madame Claude Serminet, die das Buch «Aimer la cuisine Picarde» geschrieben hat. Typische Küche der Picardie, aber nicht immer überzeugend. Bäcker (Di. geschlossen). Kleine Épicerie mit sehr beschränktem Angebot, hauptsächlich Fischerei-Artikel. Gute Einkaufsmöglichkeiten im 3 km entfernten Bray-sur-Somme mit Supermarkt und sehr guter Boucherie/Charcuterie/Traiteur/Épicerie «Les 3 Gourmands». Am Dorfausgang Richtung Bray-sur-Somme linkerhand grosse Gemüsegärtnerei (Erdbeeren und Gemüse zum Selberpflücken).
- Corbie. Liegemöglichkeit am Steg beim Campingplatz. Strom und Wasser. Einwurf 2 Euro, reicht für etwa 8 Stunden Strom/Wasser. Supermarkt «Simply», Bäcker und Metzger in Gehdistanz. Restaurants.
- Amiens. Liegemöglichkeiten im Port d’amont, direkt oberhalb der Schleuse und unterhalb der Schleuse im Port d’aval. Port d’amont hat theoretisch Strom und Wasser, war aber im Juli 2012 vandalisiert. Berichte von nächtlichen Belästigungen durch Betrunkene. Sehr laut wegen Parkplatz und Spätheimkehrern aus den zahlreichen Bars in der Umgebung. Sehenswürdigkeiten: Kathedrale, Maison Jules Verne, Hortillonnages («schwimmende» Gärten). Markt am Samstag am Quai Bélu und bei der gedeckten Markthalle. Der beste Metzger: «La boucherie du Beffroi» am Marktplatz.
- Picquigny. 50 m langer Quai mit Pollern am linken Ufer oberhalb der Schleuse. Zughaltestelle in Gehdistanz. Keine Einrichtungen. Zwei Bäcker, ein sehr guter Metzger, gepflegter kleiner Carrefour über die Brücke rechts in ca. 400 m Distanz. Restaurant «L’Olivier» Nähe Hafen ist seit 2011 geschlossen, ebenso die kleine Épicerie im Dorf. Sehenswürdigkeiten: Château aus dem 14. Jahrhundert (Ruinen) und Collégiale St Martin (Kirche) mit Schiff aus dem 13. Jahrhundert.
- Long. Liegemöglichkeit direkt oberhalb Schleuse am linken Ufer, ca. 40 m langer Quai mit Pollern. Strom und Wasser (Einwurf 2 Euros). Einkaufsmöglichkeiten: Metzgerei mit Dépôt de pain und recht assortierter Épicerie. Empfehlenswertes Restaurant «Le Comptoir Bleu» mit Terrasse auf die Somme, direkt gegenüber dem Liegeplatz. Sehenswürdigkeiten: Château de Long aus dem 18. Jahrhundert mit eindrücklichem Park. Wasserkraftwerk von 1902, immer noch betriebsfähig.
- Pont-Rémy. 50 m langer Quai mit Pollern am linken Ufer ca. 300 m oberhalb der Schleuse. Strom und Wasser (Einwurf 2 Euros). Bäcker, Metzger mit angegliederter Épicerie. Im Office de Tourisme kann die Wegbeschreibung für eine lohnenswerte 10 km-Rundwanderung auf die Höhen von Pont-Rémy bezogen werden.
- Abbeville. 80 m langer Quai mit Pollern am rechten Ufer oberhalb der Schleuse. Strom und Wasser (Einwurf 2 Euros). Wenn besetzt, Liegemöglichkeiten unterhalb der Schleuse im «Port Maritime», langer Quai mit Ringen. Keine Einrichtungen. Achtung: Tidenhub ca. ein Meter. Direkt neben dem oberen Liegeplatz Carrefour mit Tankstelle und allen üblichen Gasflaschen. Gegenüber dem oberen Liegeplatz «Espace Auto», Fiat- und Seat-Garage mit günstigen Miettarifen. Zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Empfehlenswertes Restaurant «L’Étoile du Jour». Markt Donnerstag und Samstagmorgen. Alle Einkaufsmöglichkeiten.
- Saint-Valéry-sur-Somme. Liegeplatz entweder am Ponton oberhalb der Seeschleuse (Strom und Wasser, Einwurf 2 Euro) oder im Seehafen unterhalb der Seeschleuse (Boote >12 m Euro 32/Tag). Sehr touristischer Ort. Restaurants mit Blick auf die Sommebucht unter allen Umständen meiden: Das Essen ist durchwegs ungeniessbar und die Preise absurd. Empfehlenswertes Restaurant: «Le Vélocipède». Markt Mittwochmorgen und Sonntagmorgen. Sehenswürdigkeiten: Historische Dampfbahn, Ökomuseum Picarvie, Kräutergarten «Herbarium des remparts». Ausfahrten mit Schiff «Commandant Charcot» in die Bucht. Geführte Wanderungen (Zeitpunkt abhängig vom Gezeitenstand).