Genthin – Kirchmöser – Brandenburg – Potsdam – Berlin
(Elbe-Havel-Kanal; Havel, Teltowkanal, Spree-Oder-Wasserstrasse, Dahme-Wasserstrasse; 204 Kilometer, 4 Schleusen, 1 Hebebrücke)
Karten:
– Berlin und Brandenburg. Wasserstrassen zwischen Magdeburg und Eisenhüttenstadt, Binnenkarten Atlas Band 3, 2013, Verlag Kartenwerft GmbH, www.kartenwerft.de
– Berlin & Märkische Gewässer 1, Ausgabe 2012, Nautische Veröffentlichung Verlagsgesellschaft, www.nv-verlag.de
(Wir geben hier Karten desselben Fahrgebietes von zwei verschiedenen Herausgebern an, weil wir kürzlich auf die Karten des Verlags «Kartenwerft» gestossen sind und jetzt am Testen sind.)
***
In unserem Bericht Nr. 95 haben wir davon erzählt, wie wir wegen eines Schadens an der Antriebswelle und der daraufhin heiss gelaufenen Stopfbuchse am Mittellandkanal in Haldensleben (Sachsen-Anhalt) strandeten und dort vom 14. Juni bis 5. Juli festlagen. Dies und wie wir dann doch zur Werft gelangten, war Gegenstand eines Berichtes in der Lokalzeitung, den wir nachträglich erhielten und den wir Ihnen nicht vorenthalten möchten.
***
Wir haben auch beschrieben, wie wir nach stattgefundener Reparatur am 23. Juli die Werft verlassen und – endlich! – weiterfahren konnten. Etwa drei Wochen später stellten wir jedoch fest, dass das Getriebe Öl verlor. Ganz wenig, nur tropfenweise – aber bisher war es immer völlig dicht gewesen. Offensichtlich war eine Dichtung im Getriebe, ein sogenannter Simmerring, vermutlich schlicht als Folge von Verschleiss, undicht geworden.
Das wäre an sich kein Grund zur Aufregung, wäre nicht unter der oben abgebildeten Explosionszeichnung im Werkstatthandbuch des Getriebes gestanden, um den Simmerring zu ersetzen, müsse das Getriebe ausgebaut werden («To remove the output shaft, first take the gearbox out of the boat»). Die blosse Vorstellung hat Christian den Schlaf geraubt. Das Getriebe sitzt nämlich wie üblich direkt am Motor, aber unmittelbar danach kommt das Maschinenraumschott. Dicker, solider holländischer Schiffsbaustahl. Das zwischen Motor und Schott eingeklemmte Getriebe auszubauen, würde eine gröbere Operation bedeuten.
Anruf auf die Werft: «Habt Ihr einen Termin für uns frei?» Beruhigende Antwort: «Kommen Se übernächste Woche vorbei. Und wejen det Jetriebe machen Se sich mal keenen Kopp, dat kriejen wa schon hin!» Wo nehmen die bloss die Zuversicht her?
***
Wir winden an dieser Stelle dem Schiffsbaumechaniker Roland Fleischer nicht nur ein Kränzchen, sondern einen grossen Kranz. Er arbeitete 48 Jahre lang in der Werft Genthin, erlebte Höhen und Tiefen dieses Betriebes, wurde vor 2 Jahren pensioniert und wird gelegentlich noch beigezogen, wenn ein Getriebespezialist gebraucht wird. Und das ist jetzt der Fall.
Damit er nicht das ganze Getriebe ausbauen muss, fertigt ihm Dreher Frank Piastowski einen «Simmerring-Auszieher», und damit der neue Simmerring ohne Schaden auf die Welle aufgepresst werden kann, aus Teflon einen «Simmerring-Aufpresser» an.
Probelauf – Simmerring dicht – Es ist geschafft!
***
Die vom Mechaniker in Haldensleben (nicht von der Werft in Genthin!) falsch positionierte Stehlagerwelle ist justiert, das Getriebe ist dicht – wir sind endlich – endlich! – fahrtüchtig. Unsere erste Fahrt führt uns von Genthin nach Kirchmöser am Plauer See, etwa fünfviertel Fahrstunden vor Brandenburg. Hier warten wir auf unsere Freunde Kuno und Christina mit Tochter Lara, die – wie jedes Jahr – ihre Herbstferien bei uns verbringen werden.
***
An Kirchmöser selbst kann man ein ganzes Jahrhundert deutscher Industriegeschichte ablesen – vom Aufstieg in preussischer Zeit bis zum tiefen Fall nach der Wende.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde hier die «Königlich-Preußische Pulverfabrik» gebaut. 1921 übernahm die Deutsche Reichsbahn das Gelände und im Frühjahr 1924 nahm das modernste Lokomotivprüf- und Ausbesserungswerk Deutschlands seinen Betrieb auf. Anfang 1943 wurde in den Hallen des Lokomotivwerks ein Panzerwerk eingerichtet. In Kriegszeiten wurden hier Teile für den Panzer «Panther» sowie Luftabwehrgeschütze gebaut. Die Rote Armee nutzte die Anlagen von 1945 bis 1992. Zu DDR-Zeiten waren auf dem gesamten Industriegelände Kirchmöser bis zu 5’000 Arbeiter beschäftigt.
Das imposante, 1916 fertiggestellte Verwaltungsgebäude diente bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als Hauptverwaltung zuerst der Pulverfabrik und später des Eisenbahnwerkes. Nach 1945 richtete hier das Walzwerk «Willy Becker» Diensträume für Verwaltungszwecke ein. 1958 – also zu DDR-Zeiten – übernahm die Stadt Brandenburg das Hauptverwaltungsgebäude mit der Absicht, hier ein Krankenhaus einzurichten. Um das Gebäude künftig als Klinik für Orthopädie, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde sowie Augenklinik nutzen zu können, waren massive Investitionen notwendig. Zwei Operationssäle vervollständigten die Behandlungsmöglichkeiten. Das Ganze stellte sich als sozialistische Planungsleiche heraus, das Gebäude wird seit zehn Jahren nicht mehr genutzt.
Heute sind auf dem riesigen Industriegelände nur noch wenig Betriebe ansässig. Die Deutsche Bundesbahn nutzt einige Gebäude und in den riesigen Werkhallen des Lokomotiv- und Panzerwerks produzieren drei Firmen Leitplanken für den Autobahnbau.
Sonst schwebt über dem ganzen Gelände eine beklemmende Friedhofsruhe. Eine Eisenbahndrehscheibe und ein grosser Laufkran rosten vor sich hin, und bei vielen Gebäuden hat die Natur mit der Rückeroberung begonnen. Was ist aus den rund 5’000 Arbeitern geworden, die hier noch vor wenigen Jahren beschäftigt waren?
Das erwähnte Walzwerk wurde nach der Wende abgebaut, nach Malaysia transportiert und dort wieder aufgebaut. Wir können uns nicht helfen, aber irgendwie erscheint uns das symptomatisch für den schleichenden Niedergang des Werkplatzes Europa.
***
Noch ganz lebendig ist indessen die ebenfalls zu Beginn des Ersten Weltkriegs für die Facharbeiter der «Königlich-Preußischen Pulverfabrik bei Plaue Havel» (wie Kirchmöser damals hiess) errichtete und heute denkmalgeschützte Gartenstadt Plaue.
Sie entstand als bedeutendes Frühwerk des Architekten Paul Schmitthenner (1884–1972) in landschaftlich reizvoller Lage auf freiem Feld etwa einen halben Kilometer nördlich des damals selbständigen Städtchens Plaue.
Mit der geschlossenen Komposition von Wohngebäuden und Gartenanlagen setzte Schmitthenner Ideen der aus England stammenden städtebaulichen Initiative um, die in der Errichtung naturnaher Wohngebiete eine Alternative zu den ungesunden kasernenartigen Wohnbauten der Arbeiterviertel an den Rändern der Grossstädte sah.
Ausserhalb der denkmalgeschützten Gartenstadt, im Städtchen Plaue, findet man allerdings auch Objekte, welche durchaus noch Entwicklungspotential haben …
***
Während wir in Kirchmöser auf unsere Freunde Christina, Kuno und Lara warten, die jeden Herbst eine Woche mit uns fahren, besuchen uns Erich, ein Neffe von Charlotte, und seine Frau Paula. Sie sind mit dem Wohnwagen unterwegs und können auf dem Gelände des Segelvereins übernachten.
Das Wetter ist zwar mit einem kräftigen Ostwind sehr frisch, aber über der Havelseenlandschaft wölbt sich ein derart strahlend blauer Oktoberhimmel, dass es kein Halten mehr gibt. Schiffe sind gebaut, damit man mit ihnen fährt. So machen wir denn einen Tagesausflug nach Brandenburg, wo wir den Dom besichtigen und bei einem der zahlreichen Fischereibetriebe lecker geräucherten Fisch essen.
***
Als literarischer Entdecker und Chronist der Mark Brandenburg gilt der aus einer Hugenottenfamilie stammende, in Neuruppin geborene Theodor Fontane. In seinen ab 1859 zunächst in verschiedenen Zeitungen publizierten «Wanderungen durch die Mark Brandenburg» hat er Geschichte, Landschaft und Persönlichkeiten vom Fischer bis zum Fürsten beschrieben.
Mit den bis 1882 in vier Bänden erschienen «Wanderungen» machte er Brandenburg bis weit über seine Grenzen hinaus bekannt. Vieles hat sich seither natürlich verändert: das deutsche Kaiserreich ging unter, die darauf folgende Weimarer Republik wurde von den Nationalsozialisten hinweggefegt, das Dritte Reich entstand und versank in Schutt und Asche, aus dem sowjetisch besetzten Teil Deutschlands wurde ein Arbeiter- und Bauernstaat, der seine Bürger mit Mauer, Todesstreifen, Selbstschussanlagen und Minengürteln daran hindern musste, aus dem sozialistischen Paradies zu flüchten, schliesslich fiel die Mauer und die DDR verschwand von der politischen Landkarte. Aber wo Fontane die Landschaft beschreibt und die Geschichte der Mark Brandenburg erzählt, ist er zeitlos und die Lektüre ein Genuss. Denselben wollen wir Ihnen in diesem und den folgenden Berichten, wenn auch nur in kurzen Zitaten, nicht vorenthalten.
«Die Havel, um es noch einmal zu sagen, ist ein aparter Fluss; man könnte ihn in seiner Form nach den norddeutschen oder den Flachlands-Neckar nennen. Er beschreibt einen Halbkreis, kommt von Norden und geht schliesslich wieder gen Norden. Und wer sich aus Kindertagen jener primitiven Schaukeln entsinnt, die aus einem Strick zwischen zwei Apfelbäumen bestanden, der hat die geschwungene Linie vor sich, in der sich die Havel auf unseren Karten präsentiert. Das Blau ihres Wassers und ihre zahllosen Buchten (sie ist tatsächlich eine Aneinanderreihung von Seen) machen sie in ihrer Art zu einem Unikum.»
«Das Stückchen Erde, das sie umspannt, eben unser Havelland, ist, wie ich in den voraufgehenden Kapiteln gezeigt habe, die Stätte ältester Kultur in diesen Landen. Hier entstanden, hart am Ufer des Flusses hin, die alten Bistümer Brandenburg und Havelberg. Und wie die älteste Kultur hier geboren wurde, so auch die neueste. Von Potsdam aus wurde Preussen aufgebaut, von Sanssouci aus durchleuchtet. Die Havel darf sich einreihen in die Zahl deutscher Kulturströme» (Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Dritter Teil, Havelland).
***
Von Kirchmöser aus fahren unsere Freunde Kuno, Christina und Lara mit. Sie sind schon in Frankreich und in den Niederlanden mit uns gefahren. Wie wir sind auch sie von diesem grossartigen Wassersportrevier begeistert.
***
Über die Niederhavel in Brandenburg führt eine Seilfähre, signalisiert durch das Hinweiszeichen E.4a («Nicht frei fahrende Fähre») sowie das Gebotszeichen B.7 («Schallsignal abgeben»). Weil Vorsicht die Mutter der Porzellankiste und der Bremsweg unseres 48-Tonnen-Schiffes ziemlich lang ist, verlangsamen wir jeweils die Fahrt merklich und melden uns nicht nur mit Schallsignal (Kinette hat ein sehr beeindruckendes Kompressorhorn), sondern rechtzeitig auch per Funk auf Kanal 10: «Seilfähre Neuendorf, grosses Sportfahrzeug, Bergfahrt».
Schallzeichen und Funkspruch herannahender Schiffe sind offenbar für die hiesigen Fährenführer die Einladung, abzulegen und die Reaktionsfähigkeit des feindlichen Schiffsführers zu testen. Anders können wir es uns nicht erklären, dass sowohl die Seilfähre in Brandenburg als auch diejenige in Potsdam zwar auf den Funkspruch nicht reagiert, aber exakt in dem Moment ablegt, wie wir in Sicht kommen. Und weil wir uns aus verständlichen Gründen mit der Schraube nicht im Seil der Fähre verheddern wollen, bleibt uns nichts anderes als «volle Kraft zurück» übrig.
(Falls Sie selbst Schiffsführer sind, so sind sie jetzt möglicherweise verunsichert. Was wir hier schildern, ist die erlebte Praxis. Die Theorie ist natürlich anders. § 6.23 Ziffer 1 der Binnenschifffahrtsstrassenordung (BinSchStrO) lautet wie folgt: «Eine Fähre darf eine Wasserstrasse nur überqueren, wenn sie sich vergewissert hat, dass der übrige Verkehr eine gefahrlose Überfahrt zulässt und ein anderes Fahrzeug nicht gezwungen wird, unvermittelt seinen Kurs oder seine Geschwindigkeit zu ändern.» Das niederländische Binnenvaartpolitiereglement (BPR) sagt in Artikel 6.23 Ziffer 1 übrigens auch nichts anderes: «Een veerpont mag slechts vertrekken, keren of het vaarwater oversteken, nadat hij zich ervan heeft vergewist dat dit zonder gevaar kan geschieden». Für Führer von Seilfähren scheinen hierzulande keine Regeln zu gelten.)
***
Erholt vom Fährenärger haben wir uns bei einer wundervollen Aufführung des «Elias» von Felix Mendelssohn-Bartholdy in der St. Katharinenkirche in Brandenburg. Was die drei Chöre Brandenburger Stadtkantorei, Ruppiner Kantorei und Kantorei der St. Marienkirche Wittstock zusammen mit Mitgliedern des Orchesters der Komischen Oper Berlin geboten haben, war absolute Spitzenklasse.
***
Die Liegeplätze Brandenburg, Potsdam und Berlin-Tempelhof, die jeweiligen Städte sowie die Fahrt auf der Havel, den Havelseen und den Seenketten südöstlich von Berlin haben wir dieses Jahr schon mehrmals beschrieben, sodass wir uns jetzt zum grossen Teil mit Bildern begnügen können – sie sprechen für sich selbst.
***
Wir verlassen Potsdam und biegen vor der Glienicker Brücke über Steuerbord in den Teltowkanal ein. Unser Ziel ist wieder der Tempelhofer Hafen, den wir wegen der Nähe zum U-Bahnhof Ullsteinstrasse und zum Einkaufszentrum «Tempelhofer Damm», wegen der hilfsbereiten Hafenmeister Jens und Toni sowie wegen seiner Ruhe schätzen. Wir sind glücklicherweise nicht die Einzigen, denn wir bekommen Besuch von unseren Freunden Christian und Therese mit ihrer «Fenna».
***
Es wird immer herbstlicher, Morgennebel liegt jeweils über dem Wasser. Ein deutlicher Hinweis, dass sich die Fahrsaison ihrem Ende zuneigt. Die «Fenna» läuft nach Oranienburg in ihr Winterlager aus, wir steuern unser Winterquartier südöstlich Berlin an.
***
Auf dieser Fahrt passieren wir einen Verladehafen, wo Braunkohle aus dem Tagebau in Thüringen auf Lastkähne verladen wird, welche sie auf dem Wasserweg zu den Kohlekraftwerken transportieren. «Energiewende» bedeutet notgedrungen Stromerzeugung durch Kohle und Gas sowie, in vernachlässigbarem Masse und nicht konstant, durch Windkraft. Im übrigen verlassen wir jetzt dieses Thema für dieses Jahr!
***
Dafür schwelgt die Natur in prachtvollen Herbstfarben und es kommt uns die Verszeile aus dem Abendlied von Gottfried Keller in den Sinn: «Trinkt o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt!»
Selbst bei der Morgenröte greift die Natur tief in den Farbtopf – so tief, dass es schon beinahe kitschig ist!
***
Und hier noch die Auflösung des Vexierbildes «Wo ist Kinette?» Haben Sie unser Schiff gefunden? Es ist in der Mitte am rechten Bildrand, erkennbar am Segeldach vor dem Steuerhaus.
***
Aus dem Logbuch
- Kirchmöser am Plauer See. Steganlage des Eisenbahner-Segelvereins Kirchmöser 1928 e.V. Gastliegeplätze mit Elektrisch. Wasser am Versorgungssteg im Industriehafen. Duschen, Toiletten, Waschmaschine/Trockner. Kostenpflichtig. Nebenan empfehlenswertes Restaurant «Fischerufer». Zwei «Netto»-Supermärkte in Fahrraddistanz. In Plaue Supermarkt REWE sowie Schlossladen. Sehenswürdigkeiten: Industrielehrpfad Kirchmöser, Gartenstadt Plaue, Schlosspark Plaue mit Hofladen.
- Brandenburg. Liegemöglichkeit für Yachten an der Brandenburger Niederhavel am Schwimmsteg beim Slawendorf. Kostenpflichtig. Wasser, Elektrisch, Sanitäreinrichtungen. Für grössere Schiffe Liegemöglichkeit ohne Einrichtungen am Salzhofufer (ebenfalls kostenpflichtig). Alle Einkaufsmöglichkeiten. Zahlreiche Sehenswürdigkeiten.
- Potsdam. Liegemöglichkeit für grosse Schiffe am West-Ufer bei km 23.5, allerdings ohne Einrichtungen. Für Yachten verschiedene Marinas mit Wasser, Elektrisch und Sanitäreinrichtungen. Kostenpflichtig. Für Sehenswürdigkeiten siehe Internet. (Vor allem natürlich Schloss Sanssouci). Unser Gastro-Tip: Fischrestaurant «Der Butt», Ecke Gutenberg-/Jägerstrasse (ca. 15 Fussminuten von der Marina am Tiefen See).