Das Elbe-Streckenpatent
Für einmal berichten wir nicht von einer Reise mit unserem Schiff, der «M.S. Kinette». Dieselbe lag – wie bereits berichtet (Siehe Bericht Nr. 103) – während der Hochsaison in einem Hafen an der Kleinen Müritz in Mecklenburg-Vorpommern, während wir in der Schweiz «Ferien» verbrachten. Unser Bericht handelt von der Elbe. Sie werden gleich sehen, warum.
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«Over, Fliegenberg, Hoopte, Stöckte, Winsen, Lassrönne, Drage, Drennhausen» murmelt die Ehefrau des Skippers des 25 Meter langen und 90 Tonnen schweren Wohnschiffes «Animo» vor sich hin, während sie in der Kombüse Brötchen streicht, Tee kocht und Kaffee aufbrüht «Drage, Drennhausen, Ebstorf, Stove, Schwinde, Rönne, Marschacht». Nein, es sind keine magischen Beschwörungsformeln, mit welchen eine zur Hexe mutierte Ostfriesin die Zwischenverpflegung verzaubert, sondern sie lernt die Ortsnamen von Hafengrenze Hamburg, km 607.5, bis Lauenburg, km 569, auswendig, insgesamt 32 Dörfer und Flecken. Hinzu kommen unzählige Ge- und Verbotstafeln sowie Hinweisschilder, ferner die Markierungen für den Verlauf der Fahrtrinne.
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Wer mit einem Schiff von über 15 Meter Länge Elbe, Weser, Donau, Untere Havelstrasse (bei einem Pegelstand von über 130 cm am Unterpegel Rathenow), Oder und Saale befahren will, muss nicht nur einen in Deutschland als Schifferpatent anerkannten Ausweis vorweisen können, sondern auch über ein Streckenkundepatent verfügen (alternativ kann man natürlich einen Lotsen anheuern). Dazu muss man die fragliche Strecke unter Aufsicht eines zugelassenen Ausbilders viermal zu Berg und viermal zu Tal befahren haben sowie die Streckenkenntnis in einer schriftlichen Prüfung nachweisen.
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«Machst Du auch mit?» war Christian von den Kollegen von der DTMV (Deutsche Traditions Motorboot Vereinigung) anfangs 2014 gefragt worden, welche den Kurs organisierten. Weil ihn die Herausforderung reizte, hatte er zugesagt. Vor den Preis setzen die Götter den Schweiss. Im konkreten Fall waren es allerdings nicht die Götter, sondern die deutsche Bürokratie. Den Nachweis, dass man die fragliche Strecke viermal zu Berg und viermal zu Tal gefahren sei, erbringe man durch den Eintrag in die Schifferdienstbücher der Kursteilnehmer, welche der Ausbilder vornehmen werde. Schifferdienstbuch? Ein solches werde von der Wasserstrassen- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) ausgestellt, fanden wir heraus. Dazu brauche es vorgängig eine amtsärztliche Untersuchung beim TÜV.
Damit war der Moment gekommen, wo sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag stellte. Aber Christian ist schon von Haus auf so konstruiert, dass er Hindernisse und Schwierigkeiten immer – naja, beinahe immer – als sportliche Herausforderungen betrachtet. Also wurde ein Termin beim TÜV und bei der WSV in Berlin vereinbart, zu einem Zeitpunkt, da wir mit dem Schiff dort zu liegen gedachten. Anfangs Mai trabte Christian beim Amtsarzt an und einen Tag später, mit dessen Zeugnis in der Hand, bei der WSV, wo ihm die nette Frau Hoeder «sein» Schifferdienstbuch mit Passfoto und Stempel versah. Er fühlte sich beinahe wie ein richtiger Kapitän…
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Im September war es dann soweit. In Oortkaten, einem Sportboothafen in Hamburg, ging Christian an Bord der «Animo». Während vier Tagen fuhren die zehn Teilnehmer am Elbe Streckenpatentkurs mit dem Hamburger Ausbilder Nils Herforth je einmal von Oortkaten an der Hafengrenze Hamburg bis Lauenburg bei der Einmündung des Elbe-Lübeck-Kanals und zurück.
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Das Wetter war so prächtig, dass beinahe Ferienstimmung aufgekommen wäre, wäre da nicht der happige Stoff gewesen, den es zu lernen galt. Wahrscheinlich ging es auch anderen Teilnehmern so wie ihm. Nach dem ersten Tag tiefe Verzweiflung: «Das schaffe ich nie!» Am Abend des zweiten Tages ein leiser Hoffnungsschimmer: «Zumindest die Signalisation hat ja System und die Ortsnamen kann man irgendwie mit Eselsbrücken lernen!» Tag drei: «Es könnte zu packen sein!» und am Abend vor der Prüfung: «Ich schaff das!»
Zwar ging es in erster Linie um den Erwerb des Streckenkundepatents, aber auch die Geselligkeit kam nicht zu kurz. Eine geführte Stadtwanderung in Lauenburg, die Besichtigung eines Dampf-Eisbrechers sowie ein Abschlussabend im City Sportboothafen Hamburg bildeten das Rahmenprogramm.
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Am fünften Tag war dann Prüfungstag. Die drei Prüfungsexperten der Generaldirektion Wasserstrassen und Schifffahrt, Aussenstelle Nord in Kiel, verteilten an die Prüflinge je drei A3-Blätter mit dem eingezeichneten Streckenverlauf, allerdings völlig blank. Also keine Kilometrierung, keine Ortsnamen und schon gar keine Signalisation. Dazu ein weiteres Blatt mit zehn streckenbezogenen Prüfungsfragen. 60% der Karteneinträge und 60% der Antworten auf die besagten Fragen mussten richtig sein, damit die Prüfung als bestanden galt. Bei Grenzfällen hätte noch mit einer mündlichen Prüfung durch die dreiköpfige Prüfungskommission nachgebessert werden können.
Nach bangem Warten dann das grosse Aufatmen: Neun der zehn Kursteilnehmer konnten das Streckenpatent in Empfang nehmen.
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Für Christian waren die gute und kameradschaftliche Stimmung unter den Teilnehmern sowie die weite Flusslandschaft dieses Gezeitenstroms besonders eindrücklich. Da sieht man auch grosszügig darüber hinweg, dass sich dem nautisch-bürokratischen Laien der Sinn dieses behördlich verordneten Auswendiglernens nur ganz schwer erschliesst – schliesslich gibt es ja Karten und eine deutliche Signalisation. Aber was solls, Gehirntraining vom Feinsten war es allemal!
Und selbstverständlich werden wir früher oder später auf eigenem Kiel in Hamburg einlaufen!