Meerkerk – Leerdam – Vianen – Dordrecht
(Merwedekanaal bezuiden de Lek, Linge, Lek, Noord, Rietbaan, Oude Maas; 88 Kilometer mit einer Schleuse und acht Hebe- und Drehbrücken)
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Nach drei Wochen im Gemeindehafen von Meerkerk – Theo Vlot von der Gemeindeverwaltung Zederik, wenn Sie das lesen: Nog een keer hartelijk bedankt! – brauchen wir Tapetenwechsel. Wir nehmen den Merwedekanaal Richtung Gorinchem, biegen aber bei Arkel hart über Backbord ab und fahren auf dem idyllischen Flüsschen Linge an den Dörfern Spijk, Kedichem und Heukelum vorbei nach Leerdam. Hier wollen wir eine Woche im Stadthafen liegen, bis wir uns nach Hardinxveld-Giessendam verschieben, wo wir am 15. August beim Schiffsschreiner einen Termin haben.
In einem Dörfchen an der Linge sehen wir eine Erdbeeren-Kultur, wie sie nur den Holländern in den Sinn kommen kann: Sozusagen die hängenden Erdbeeren von Leerdam. Kein Bücken beim Pflücken und kein Verfaulen, wenn’s mal zu nass wird. Genial!
In Leerdam können wir im Stadthafen liegen, direkt bei der Glasbläserei. Hier lag Kinette den ganzen Winter 2012/13.
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Leerdam ist in Deutschland und der Schweiz vor allem bekannt wegen eines laut Deklaration aus Milch hergestellten, plastikähnlichen und in Scheiben geschnittenen Produktes, das unter der Bezeichnung «Käse» verkauft wird. Die Fabrik, in welcher dieses Produkt hergestellt wird, befindet sich allerdings nicht in Leerdam selbst, sondern im Nachbardorf. Da sich über Geschmack bekanntlich nicht streiten lässt und wir nach vier Jahren im Käseparadies Frankreich käsemässig ziemlich anspruchsvoll geworden sind, wenden wir uns lieber einem anderen in Leerdam hergestellten Kulturgut zu, nämlich Gegenständen aus Glas.
Wir haben schon einmal über die Schau-Glasbläserei Leerdam berichtet (Bericht 90), in welcher Künstler aus der ganzen Welt Gastrecht geniessen. Daneben gibt es eine riesige Glasfabrik, in welcher industriell Bierflaschen hergestellt werden sowie die «Royal Crystal Leerdam». Hier werden Gläser, Vasen und Objekte aus Bleikristall geblasen. Christian wird bei einer mundgeblasenen, schweren und deshalb standfesten Kristallkaraffe schwach, die wie geschaffen ist als edles Gefäss für einen ebenso edlen Single Malt.
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Dieses Jahr ist wegen des sechswöchigen Werftaufenthaltes in Harlingen sowie aus familienbedingten Enkelhütegründen nicht ein wirkliches Fahrjahr. Nachdem Christian drei Wochen in Meerkerk allein an Bord war, ist Charlotte nach zwei Wochen an Bord schon wieder drei Wochen lang als Oma in der Schweiz tätig. Aber man kann schliesslich nicht Kinder in die Welt setzen und wenn dieselben dann dasselbe tun, sich nicht um das Ergebnis dieses Tuns kümmern, wenn denn einmal Not am Mann resp. – in unserem Fall – Not an der Frau ist.
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So benützt denn Christian diese mehr oder weniger unfreiwilligen Liegezeiten für längst fällige Unterhaltsarbeiten. Aussen ist ja Kinette wieder makellos strahlend, aber ein Teak-Oberlicht muss ersetzt sowie das Teakholz des Steuerhauses behandelt werden. Ferner haben Generator und Schiffsdiesel einen gründlichen Service verdient. Dazu müssen wir nach Hardinxveld-Giessendam. Von Leerdam aus ist das sozusagen ein Katzensprung: Die Linge zu Tal, durch die Grosse Merwedeschleuse in Gorinchem auf die Boven Merwede hinaus und auf dieser ein paar Kilometer zu Tal. Genauer gesagt, es wäre ein Katzensprung, wäre nicht die Grosse Merwedeschleuse in Gorinchem für die nächsten drei Wochen wegen Erneuerung der Hebebrücke und der Schleusentore gesperrt, sodass wir den Umweg über Vianen und Dordrecht machen müssen oder, besser gesagt, machen dürfen.
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Wir fahren also von Leerdam aus auf der Linge zu Tal, auf dem Merwedekanaal nach Norden und in Vianen durch die Schleuse auf den Lek, einen Rheinarm, hinaus. Hier ist der Rhein Gezeitengewässer.
Am Anfang haben wir noch während ein paar Kilometern die Strömung gegen uns, dann kentert die Tide und wir fahren mit der Strömung immer flotter Richtung Krimpen am Lek, das wir nach knapp vierzig Kilometern erreichen. Hier biegen wir über Backbord in den Noord ab.
Wir fahren jetzt direkt auf das sechs Kilometer entfernte Dordrecht zu. Hier kommen die drei Wasserwege Oude Maas, Beneden Merwede und Noord zusammen – zusammen mit Krimpen am Lek der verkehrsreichste Knotenpunkt auf Europas Wasserwegen. Der Schiffsverkehr wird von der Regionalen Verkehrszentrale Dordrecht mit Radar und AIS überwacht. Schiffe über 20 Meter Länge sind verpflichtet, sich über Funk, Kanal 71, anzumelden. In unserem Fall tönt das – auf Deutsch übersetzt – so:
«Post Dordrecht für Fahrendes Wohnschiff Kinette»
«Kinette. Post Dordrecht hört»
«Position Rietbaan. Bestimmung Weinhafen. Ersuchen um Unterstützung beim Überqueren der Beneden Merwede»
«Kinette, von steuerbord kreuzt der Tanker ‹Eiltank 40› und von backbord das Containerschiff ‹Semper Fidelis›. Nachher haben Sie freie Fahrt.»
Im Flugverkehr wird bekanntlich weltweit Englisch gesprochen, im Schiffsverkehr gilt die jeweilige Landessprache, hier also Niederländisch. Aber längst nicht alle Schiffsführer, die hier von und nach Antwerpen oder Rotterdam fahren, sind des Niederländischen mächtig und so spricht «Post Dordrecht» auch Englisch und Deutsch.
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Als wir diese Verkehrsknotenpunkte im Juni 2005 zum ersten Mal befuhren, geschah das mit ziemlich Herzklopfen. Seither sind nicht nur elf Jahre Erfahrung hinzu gekommen, sondern auch die AIS-Ausrüstungspflicht für Schiffe über zwanzig Meter. Das macht das Befahren solcher Wasserwege sehr viel entspannter, denn wir können die Verkehrssituation auf dem Bildschirm schon auf Distanz sehen, zumal das AIS zu jedem Schiff auch die gefahrene Geschwindigkeit anzeigt.
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Über der Einfahrt in den Wijnhaven, in welchem wir uns für einen Liegeplatz angemeldet haben liegt eine Hebebrücke, die Boombrug. Sie wird immer zehn Minuten nach der halben und der ganzen Stunde (fern)bedient und muss über den Hafendienst auf Kanal 74 aufgerufen werden.
Der Wijnhaven ist ein nach hinten zulaufender Schlauch und Platz zum Wenden für ein 23-Meter-Schiff gibt es, wenn überhaupt, nur gerade am Anfang nach der Brücke. Christian versucht es trotzdem. Unter den Blicken der fachkundigen Zaungäste – später erfahren wir, dass die Fraktionen «Er schafft es» und «Er schafft es nicht» etwa gleich gross waren – beginnt er ganz behutsam, unter Ausnützung des Radlaufeffekts und des Momentums der 42 Tonnen, das Schiff praktisch an Ort zu drehen. Die Bugschraube hilft nichts, weil er das Heck herumbringen muss. Auch wenn man das Ego dieses Kapitäns nicht noch weiter heben sollte, muss es die Chronistin im Interesse einer wahrheitsgetreuen Berichterstattung doch festhalten: Die Zuschauer haben nach gelungenem Manöver applaudiert.
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Dordrecht ist die älteste Stadt der Niederlande und, wie wir bereits geschrieben haben, der meist befahrene Knotenpunkt der Binnenschifffahrt. Die Altstadt ist sehr, sehr schön, die zahlreichen Antiquitäten-Geschäfte die reinste Verführung. In Zeiten der Internet-Plattformen könnten diese kleinen Geschäfte nicht mehr existieren, weshalb der Mietzins von der Stadt subventioniert wird, damit die Innenstadt nicht verödet. Unser Tipp ist der Pop-up Bookshop am Kuipershaven 41 (geöffnet Donnerstag, Freitag und Samstag von 12:30 bis 17:30). Es gibt in ganz Europa nur noch in Paris eine Buchhandlung mit einer derart riesigen Auswahl von bewegbaren und dreidimensionalen Büchern. Wenn der Besitzer, der pensionierte Prediger Harry Faber von der Meulen, mit seiner gütigen Grossvaterstimme das Buch «Cinderella» oder «Alice im Wunderland» erzählt und die dreidimensionalen Figuren zum Leben erweckt, wird man weit zurück in die längst verlorene Kindheit versetzt.
Freunde! Mitbürger! Römer! Genug der Worte! Lasst Bilder sprechen!
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Aus dem Logbuch:
- Meerkerk. Südlich der Hebebrücke von Meerkerk, von der Windmühle an etwa 250 Meter Grasquai mit Pollern. Zwei Elektrokästen (Strombezug mit Schlüssel und App «Park-line walstroom»). Kein Wasser. Liegedauer je nach Jahreszeit beschränkt. Kein Liegegeld. In Meerkerk gibt es einen PLUS-Supermarkt, einen (neuerdings) guten Metzger, eines der grössten Kleidergeschäfte in Südholland (Zwijnenburg Mode) zwei Bäcker/Konditoren, Drogerie, medizinisches Zentrum mit Apotheke, Restaurants sowie weitere Detailhändler.Gute Busverbindungen nach Gorinchem und Utrecht. Von dort direkte Züge nach Amsterdam und Rotterdam.
- Leerdam. Liegemöglichkeit an der Stadtmauer tagsüber während 3 Stunden, von abends 17.00 bis 10.00 Uhr 0.80 Euro/Meter. Keine Einrichtungen. Jachthafen «de oude Hoorn». Gegenüber Stadtmauer oder am Aussenquai an der Linge. Elektrisch (10 Amp) und Wasser. Kostenpflichtig. Sanitäreinrichtungen. Waschen/Trocknen. Abfallentsorgung (auch Chemieabfall). Alle Einkaufsmöglichkeiten. Kleiner Markt am Samstag. Sehenswürdigkeiten: Glasbläserei mit Zuschauertribüne, Nationales Glasmuseum und Museum «Hofje van Aerden». Kristallglas-Manufaktur «Royal Crystal Leerdam» mit Besuchsmöglichkeit und Fabrikladen. Gastrotipp: «Het Oude Posthuys» mit sehr gepflegter Küche und ansprechender Weinkarte.
- Dordrecht. Verschiedene Häfen für Yachten und Traditionsschiffe (Siehe Wateralmanak Band 2 S. 531 f.). Wir lagen bisher im Hafen der Koninklijke Roei- en Zeilvereniging, im Wolwevershaven und im Wijnhaven, Im Wolwevershaven (nur für Traditionsschiffe) hat es neuerdings Stromkästen (Strombezug mit Schlüssel und App «Park-line walstroom»). Dordrecht ist in jedem Fall einen längeren Aufenthalt wert. Kaufen Sie – auch wenn Sie nicht Holländisch können – das Buch «111 plekken in Dordrecht die je gezien moet hebben» (111 Orte in Dordrecht, die man gesehen haben muss). Es lohnt. sich! Von Dordrecht aus Waterbus nach Kinderdijk, Dordtsche Biesbosch und Rotterdam. Bahnverbindungen in alle Richtungen.
Hallo Christian,
Dortrecht ist super, ich mag es auch sehr. Übrigens, der Schuber hat Erz in der hinteren Schubeinheit (sauschwer, deshalb kann man es nicht sehen) Vorne ist Steinkohle drin, keine Braunkohle. Vermutlich aus Kolumbien, USA oder sogar Australien. Ich lade auch ab und zu in Amsterdam, um dann die Kohlen nach Berlin zu fahren. Der Schuber fährt garantiert nach Duisburg…
Bis bald
Frank